O'Brien, Die kleinen roten Stühle

Als Dr. Vladimir Dragan, kurz Vuk, das serbokroatische Wort für "Wolf" genannt in einer kalten, dunklen Nacht im Örtchen Cloonoila an der irischen Westküste auftaucht ist er ein Fremder und bringt Unruhe ins eingeschlafene Dorfleben. »Ein bisschen Romantik« erhoffen sich die einen, »Skandal« wittern die anderen. Denn der Mann aus Montenegro möchte sich in in dem Ort als Heiler und Sexualtherapeut niederlassen. Die Bedenken des örtlichen Priesters gegen seine Behandlungen zerstreut er im Nu und auch den misstrauischen Polizisten wickelt er gekonnt um den Finger. Nach und nach erliegt ganz Cloonoila dem Charisma des mysteriösen Fremden, der martialische Gedichte schreibt, lateinische Verse rezitiert und vor allem bei den Frauen scheinbar Wunder bewirkt. Die schöne, mit einem viel älteren Mann verheiratete Fidelma hat ihn sogar als Vater des Kindes auserwählt, nach dem sie sich so verzweifelt sehnt. Doch Vuk ist in Wirklichkeit ein Wolf unter Schafen, ein gesuchter Kriegsverbrecher, und Fidelma wird für ihren Pakt mit ihm bitter bezahlen. Ihr Leben nimmt eine dramatische Wendung.

Die 87-jährige Edna O’Brien stammt aus der Gegend, in dem ihr neuer Roman spielt, lebt aber in London, wohin sie 1959 mit ihrem damaligen Mann, dem tschechisch-irischen Schriftsteller Ernest Gébler zog . Die Grand Dame der irischen Literatur reüssierte schon als 30-jährige mit ihrem Debütroman "The Country Girls" (Die Fünfzehnjährigen), der in England ein Riesenerfolg wurde und den Kingsley Ames Award erhielt. In ihrer irischen Heimat verursachte das Buch allerdings einen Skandal, wurde verboten und zum Teil verbrannt. Es zeigt den Einfluss ihres Landsmanns James Joyce, dem die Autorin später eine Biografie gewidmet hat. Man könnte es eine christliche Fatwa nennen, einen Bann, der daraufhin über die Autorin gelegt wurde und verhinderte, dass ihre folgenden sechs Romane in der Republik Irland erscheinen durften. Doch Edna O’Brien ließ sich von dieser Feindseligkeit ihrer Heimat nicht beeindrucken, veröffentlichte insgesamt mehr als zwanzig Romane und Erzählbände, darüber hinaus Theaterstücke, Lyrik, Biografien und Drehbücher und erhielt dafür zahlreiche Preise. In den letzten Jahren war es still um die Autorin geworden. Zehn Jahre lang hatte sie keinen Roman mehr veröffentlicht, als sie sich 2015 mit The Little Red Chairs eindrucksvoll zurückmeldete. Auch das neue Buch wurde in England und den USA von der Kritik gefeiert und erscheint in elf Sprachen. Edna O’Brien lebt seit vielen Jahren in London.

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(c) Magazin Frankfurt, 2020