Longerich, Antisemitismus

Antisemitismus ist - leider - kein ausschließlich deutsches Phänomen. Mehrere aktuelle Studien zeigen, dass Judenhass auch sonst in Europa wieder auf dem Vormarsch ist. Leider scheitert eine europaweite Erfassung von Rechtsterroristen, da einige Länder sich weigern, das Problem anzuerkennen. Dabei spürt man es in den vielfältigen Formen von pauschalem Judenhass, pauschaler Judenfeindlichkeit oder Judenfeindschaft.

Deutschland ist aber - allein schon wegen der Ungeheuerlichkeit des Holocaust - ein Land, das eng mit dem Antisemitismus verbunden war - und ist. Geprägt hatten den Ausdruck feindlich gegenüber Juden eingestellten Personen im Umfeld des Journalisten Wilhelm Marr im Jahr 1879. Seit dem Holocaust wurde er zum Oberbegriff für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die Einzelpersonen oder Gruppen aufgrund ihrer angenommenen oder realen Zugehörigkeit zu „den Juden“ negative Eigenschaften unterstellen, da damit Ausgrenzung, Abwertung, Diskriminierung, Unterdrückung, Verfolgung, Vertreibung bis hin zur Vernichtung jüdischer Minderheiten gefördert, vorbereitet und gerechtfertigt wird.

Der 66-jährige deutsche Zeithistoriker Peter Longerich kennt sich damit besser aus als die meisten anderen Historiker. Longerich studierte Geschichte in München und promovierte über die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich unter Ribbentrop. 2002/03 lehrte er als Gastprofessor am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main und forschte anschließend als J.B. and Maurice Shapiro Senior Scholar in Residence am Centre for Advanced Holocaust Studies des Holocaust Memorial Museum in Washington. Er ist Professor am Royal Holloway and Bedford New College der Universität London und dort Direktor des Research Centre for the Holocaust and Twentieth-Century History und lehrt seit 2012 an der Universität der Bundeswehr München.

Longerich gilt als Spezialist für die Geschichte des NS-Staats und besonders des Holocausts. Seine Biografien zu Himmler, Goebbels und Hitler wurden sehr gelobt. 2016 erschien sein letztes Buch bei Siedler über die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942, in der 15 hochrangige NS-Vertreter unter dem Vorsitz von Reinhard Heydrich die Deportation des gesamten jüdischen Bevölkerung Europas zur Vernichtung in den Osten organisierten. Protokollant war der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, Heydrichs Referent für „Judenangelegenheiten", der nach seiner Flucht nach Südamerika von den Israelis dort entführt und nach einem Prozess zum Tode verurteilt wurde.

Jetzt hat Longerich, 80 Jahre nach dem Holocaust, ein weiteres Buch geschrieben, das uns die Augen öffnet, denn der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich die Lage für Juden in Deutschland geworden ist – die Debatte hat auch offengelegt, dass antijüdische Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft existieren. Peter Longerich war Mitautor des 2012 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichts des Deutschen Bundestags. Er zeigt, durch eine Verfolgung des Antisemitismus durch die deutsche Geschichte seit der Zeit der Aufklärung, dass wir den gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland nicht begreifen können, wenn wir ihn vor allem als Sündenbock-Phänomen verstehen. Das wird hierzulande meist in den Schulen und Hochschulen gelehrt. Der Blick in die Geschichte offenbart, dass das Verhältnis zum Judentum bis heute vor allem ein Spiegel des deutschen Selbstbildes und der Suche nach nationaler Identität geblieben ist. Longerich hat damit ein brisantes Buch auf den Markt gebracht, das mitten in die aktuelle Debatte stößt.

Warum tun wir so wenig gegen den Antisemitismus? Weil wir es so gewohnt sind? Selbst der Erzieher und Philosoph Johann Gottlieb Fichte, einer der wichtigsten Vertreter des Deutschen Idealismus und Johann Gottfried Herder, einer der einflussreichsten Schriftsteller und Denker deutscher Sprache im Zeitalter der Aufklärung und zusammen mit Wieland, Goethe und Schiller Teil des klassischen Viergestirn von Weimar, wollten einst jüdischen Menschen die Bürgerrechte vorenthalten. Andere wollten sie schon damals auf Scheiterhaufen verbrennen. Antisemitismus hatte so etwas wie eine identitätsstiftende Funktion für das deutsche Nationalbewusstsein. Diese Bestrebungen gab es zwar auch im benachbarten Ausland, aber Longerich schränkt die Recherche bewusst ein, berücksichtigt mit seiner sehr differenzierten Betrachtung auch Israel und den linken sowie muslimischen Antisemitismus.

Peter Longerich, Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte - Von der Aufklärung bis heute, Siedler, Hardcover, 640 Seiten, ISBN 978-3827500670, 34 Euro

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