Wingate, Das Glasperlenmädchen

Man staunt anfangs über den recht ländlichen Geburtsort, das rheinische Landstuhl, doch der kleine Ort mit seinen knapp 10.000 Einwohnern steht bei zahlreichen US-Amerikanern auf dem Geburtsschein, denn dort hatte das Regional Medical Center seinen Sitz, in dem die Kinder der zeitweise in und um Kaiserslautern stationierten Soldaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickten. Heute lebt die Journalistin und Autorin mehrerer preisgekrönter Romane in den malerischen Ouachita Mountains in Arkansas. Ihren großen Durchbruch feierte sie vor einigen Jahren mit »Die Libellenschwestern«, der nicht nur die »New York Times«-Bestsellerliste über ein Jahr hinweg anführte, sondern auch die SPIEGEL-Bestsellerliste sowie Tausende Leserherzen im Sturm eroberte. Führten die Libellenschwestern die Leser zurück in die späten 1930er Jahre auf den Mississippi in Tennessee, so erleben wir bei den Glasperlenmädchen eine Reise zurück in die aufgewühlten USA ein Jahrzehnt nach dem Ende der Amerikanischen Bürgerkriege.

»Blau ist die Farbe der Treue. Diese Perlen bedeuten, dass wir immer zusammenhalten, egal, wo wir sind …« 1875 werden drei Frauen auf ihrer Reise nach Texas zu unfreiwilligen Weggefährtinnen: Lavinia ist die Tochter weißer Plantagenbesitzer, Juneau Jane ist ihre Halbschwester und Hannie ist eine ehemalige Sklavin. Die Gründe ihrer Reise sind unterschiedlich, den jede der drei ist in eigener Mission unterwegs. Geht es bei Lavinia und Juneau um ihr Erbe, sucht Hannie nach ihrer Familie, die einst von Sklavenhändlern verschleppt wurde. Nur drei blaue Glasperlen blieben Hannie als Andenken – und als Erkennungsmerkmal, falls sie ihre Liebsten je wiedersehen sollte …

112 Jahre später betritt Benedetta Silva 1987 frisch vom Lehrercollege erstmals ihre neue Arbeitsstätte, die Schule in Augustine, Louisiana. Nichts ist so, wie sie erwartet hätte. Statt moderner Klassenzimmer und lernfreudiger Schüler begegnen ihr Armut sowie Skepsis gegenüber Fremden und jede Art von Fortschritt. Eines Tages kommt ihr eine Idee: Wenn die Schüler Neuem gegenüber so verschlossen sind, wie verhält es sich dann mit der Vergangenheit? Kurzentschlossen ruft sie ein Ahnenforschungsprojekt ins Leben – und stößt dabei auf eine alte Geschichte, die alles verändert …

Die Idee zu Hannies und Bennys Geschichte kam Lisa Wingate per E-Mail durch Diane, eine Leserin ihrer Libellenschwestern. Diese fütterte als Freiwillige gerade eine Datenbank mit Informationen aus über 100 Jahre alten Zeitungsannoncen, die eine Lost Friends-Vermissten-Rubrik ergeben sollte für all diejenigen, die via Internet genealogische und historische Recherchen anstellen.

„Hinter jeder dieser Annoncen steckt eine Geschichte“, schrieb sie ihr und verschaffte ihr Zugang zu der Datenbank. Für Wingate war es fast ein Erlebnis wie für Alice im Wunderland. Auch für sie tat sich ein Wunderland aus längst vergangenen Leben, aus Geschichten Sehnsüchten und Gefühlen auf. Stets waren die Schreiber von Hoffnung und Sehnsucht beflügelt.

Erschienen sind die Anzeigen ab 1877 im Southwestern Christian Advocate, einer methodistischen Zeitung, die zum Jahrespreis von zwei Dollar unter anderem an rund 500 Prediger versandt wurde, die darum gebeten wurden, die Schreiben von der Kanzel herab zu verlesen und in der man auch diejenigen bat, sich bei der Zeitung zu melden, deren Suche vom Erfolg gekrönt war, um andere zur Mithilfe zu ermutigen.

Lisa Wingate war nach der Lektüre zahlreicher dieser Annoncen, die ihr das Gefühl gaben, die Suchenden kennenzulernen sicher, die Geschichte einer dieser Familien schreiben zu müssen, die durch Gier, Chaos und Grausamkeit auseinandergerissen worden war. Das Lebensschicksal von Caroline Flowers animierte sie zu der Geschichte von Hannie, die sich auf der Suche auf eine Art Odyssee begeben musste, die ihr Leben für immer verändern sollte.

Für ihre Geschichte hat sich Wingate auf Recherchereise einige Orte entlang der Old River Road besucht, die als Überbegriff im Leben von Hannie, Lavinia und Juneau Jane eine wichtige Rolle spielten, wie die Whitney Plantation, die sich heute museal den Erfahrungen der als Sklaven ausgebeuteten Menschen widmet. Im Cane River Creole National Park erlebte sie die alten Baumwollplantagen. Mit „creole“ bezeichnete man in Louisiana die Nachkommen französischer oder spanischer Einwanderer, die im Gegensatz zu den dort lebenden Nachfahren der Bewohner Akadiens den Cajuns, standen. Ihre Besichtigung der Magnolia Plantation inspirierte sie zur Anlage des im Buch beschriebenen Herrenhauses, bei der die Sklaven oft über Klappen in Boden aus dem Keller heraus die Räume des Erdgeschosses betreten mussten. Eine der Klappen führte vom Keller in das Kinderzimmer und wenn das Baby gefüttert oder beruhigt werden musste, konnte die im Keller schlafende Amme heraufklettern.

Wenn Sie selber mal in die „Lost Friends“-Vermissteninserate schauen wollen, um sich für einen eigenen Roman inspirieren zu lassen, hier ist der Link.

Lisa Wingate, Die Glasperlenmädchen, Limes-Verlag, Hardcover, 528 Seiten, ISBN 978-3809027393, 22 Euro

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