Il trionfo del Tempo e del Disinganno

Il trionfo del Tempo e del Disinganno

(c) Alciro Theodoro da Silva/Internationale Händel Festspiele Göttingen

Es ist das erste Oratorium des 22-jährigen Georg Friedrich Händel. Geschrieben hat er es wohl in Italien und seine Uraufführung dürfte im Familienpalast Doria Pamphilij des Autors des Libretto oder im Theater des von ihm unterstützten Collegio Clementino erfolgt sein. Wem der Name recht lang erscheint, sollte wissen, dass dies bereits die Kurzform ist, denn Kardinal Benedetto Pamfilij, der besagt Autor wollte das an den jungen deutschen Musiker vergebene „dramma per musica“ eigentlich „La Bellezza ravveduta nel Trionfo del Tempo e del Disenganno“, was übersetzt so viel wie ‚Die durch den Sieg über die Zeit und die Ernüchterung geläuterte Schönheit“ bedeutet. Hierdurch wäre auch die Allegorie der Schönheit vorgestellt und nur Piacere, die Allegorie des Vergnügens wäre – ganz im kirchlichen Interesse – offiziell außen vor gewesen.

Händel wurde durch Italien inspiriert, als er sich 1706 dorthin aufmachte. Rom war eine reiche Stadt mit einem prächtigen Petersdom und andere Sakralbauten und Palästen. Weltlicher Adel und kirchliche Herren pflegten eine anspruchsvolle und luxuriöse Hofhaltung und schon im Folgejahr schrieb er für seinen kunstsinnigen Auftraggeber, der sich mit ausgezeichnetem Kunstverstand als Sponsor und Autor einen Namen machte, sein erstes Oratorium, das eines seiner schönsten werden sollte. Der Kardinal wurde während seiner Zeit in Rom zu einem seiner wichtigsten Förderer. In dem Oratorium fragen sich die beteiligten Charaktere oder Allegorien, was geschieht, wenn die Schönheit zwischen die Fronten des Vergnügens auf der einen Seite und der Zeit (Tempo) und der Erkenntnis (Disinganno) auf der anderen gerät. Sie muss sich dazwischen entscheiden und die verschiedenen Einflüsterungen können unterschiedlicher kaum sein. Während das Vergnügen versucht, die Schönheit zum sorglosen Leben in ewiger Jugend und Pracht zu verführen, führt die Zeit und die Erkenntnis, die Ewigkeit vor Augen. „Et in Arcadia ego“ – auch in Arkadien ist der Tod. Schon der italienische Barockmeister Guercino hatte sie in einem Hirtenbild auf ein Mauerstück geschrieben, auf dem ein Totenkopf liegt. Die beiden Hirtenjungen auf dem Bild sind die Betrachter und der Spruch mahnt die Jugend in Art des Memento Mori („Bedenke, dass du sterben musst“), dass auch inmitten des Idylls der Tod steckt, der selbst Arkadien nicht verschont. Um dem Verfall zu entgehen, müsse die auch bei Händel die Schönheit einen Weg suchen, der sie zur Einsicht führt. Sie muss in Spiegel der Wahrheit sehen, statt sich von falschen Verlockungen und leichtfertigen Vergnügen amüsieren zu lassen, denn darin allein liege der Sinn des Lebens. Händel folgt in seinem Werk mit größter Sorgfalt der Gedankenwelt des Librettos. Die Hinwendung zu einem gottgefälligen Leben wird geradezu plakativ artikuliert und alle alternativen Formen der Lebensführung haben keinen Platz. Warum die Freuden der Jugend den Freuden des Glaubens entgegenstehen müssen und die Schönheit ihnen entsagen muss, um die anderen zuteilen ist nicht Teil des Diskurses, denn hier regiert trotz aller Kunstsinnigkeit des Kardinals die Kirchenmoral, die notfalls auch erzwungen wird. Das Oratorium ist eine gekonnte und kurzweilige Anreihung abwechselnden Secco-Rezitativen und Da-capo-Arien mit einigen Accompagnato-Rezitativen, Duetten und Quartetten ohne Einsatz eines Chors.

Es war die Zeit der Opera prohibita, der verbotenen Oper, denn gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte der Vatikan wegen des Sittenverfalls erst ein Auftrittsverbot für Frauen auf Opernbühnen erlassen und schließlich die noch verbliebenen Bühnen dem Erdboden gleich gemacht.

Doch auch wenn etwas verboten wird, stirbt es nicht unbedingt aus, sondern wird eben heimlich weitergeführt, wenn man sich nicht anderen Beschäftigungen zuwenden möchte. Händel suchte nach dem Opernverbot durch Papst Innozenz XII, wie zuvor schon Scarlatti und Caldera nach Alternativen und wanden sich der heiligen und damit erlaubten Musik zu und schufen meist opernhafte und dramatische Werke, eingehüllt im Deckmäntelchen des Oratoriums. Händels Bellezza-Arie „Un pensiero nemico di pace“ ist ein Musterbeispiel, denn eigentlich ist es mit zartem Mittelteil und fulminantem Schluss eine Opernarie par excellence und ein Koloraturfestival.

Summa summarum gelang dem jungen Händel ein hinreißendes Werk. Es ist nicht nur sein erstes, sondern zugleich eines seiner schönsten Werke, voll inspirierender Musik, mit virtuosen Arien, die er teilweise später wieder fulminant aufgreift und abändert, wie die Arie der Piacere „Lascia la spina“, die er als Sarabande bereits bei seinem Erstling Almira eingeführt hatte, vier Jahre später in leicht veränderter Version als „Lascia ch’io pianga“ in seiner Oper Rinaldo seinen Ruhm in London, wohin er zwischenzeitlich weitergezogen war, begründete. Sie gehört heute wohl zu den populärsten Melodien der klassischen Musik.

Das Oratorium wurde in Göttingen als Eröffnungsabend der diesjährigen Händel Festspiele von deren Künstlerischen Leiter George Petrou aufgeführt. Von den Solisten stand die Eröffnung der Händel-Festspiele anfangs unter keinem guten Stern. Louise Kemény, die für die Bellezza eingeplant war, musste krankheitsbedingt absagen. Zum Glück konnte kurzfristig, wie schon einmal 2013 bei der Festspieloper Siroe, Re di Persia, die Engländerin Anna Dennis einspringen, die den regelmäßigen Besuchern der Göttinger Händel Festspiele durch zahlreiche erfolgreiche Aufführungen, zuletzt 2021 als Rodelinda beim 100-jährigen Jubiläum der Festspiele und 2023 im Oratorium „Hercules“. Auch der katalanische Countertenor Xavier Sabata zog sich kurz vor der Veranstaltung eine Erkältung zu, die er aber gut in den Griff bekam. Anna Dennis, kürzlich in ihrer Heimat ausgezeichnet als beste Sängerin bei den 2023 Awards der Royal Philharmonic Society, überzeugte das Publikum am Eröffnungsabend mit ihrem wohlklingenden Sopran und ruhiger, stets einfühlsamer Präsenz, die sie auch mimisch gut einzusetzen wusste. Mit dem Trionfo zeigte sie erneut, was für eine wunderbar versierte und ansprechende Barockinterpretin sie ist. Sehr eindrucksvoll und überzeugend agierte auch die Ungarin Emőke Baráth als Piacere. Nach anfänglicher Instrumentalausbildung widmete sie sich ab dem 18. Lebensjahr der Gesangsausbildung und konnte während des Studiums zahlreiche Preise gewinnen und ihre Kenntnis der Barockmusik ausweiten. Sie überzeugte mit glockenheller und kristallklarer Stimme mit rauchig dunklen Momenten und sicherer Technik. Früh holten sie große Opernhäuser auf die Bühne und bei zahlreichen Festivals ist sie ein gerngesehener Gast. Noch am Anfang seiner Karriere steht der junge aus Zagreb stammende lyrische Tenor Emanuel Tomljenovic. Derzeit ist er Mitglied des Opernstudios der Oper Köln und ab der nächsten Spielzeit Mitglied des Ensembles der Oper Genf. Mit seiner sanften, natürlichen Stimme verkörperte er Tempo. Offenbar hat er sich studienmäßig auch anderes abgesichert, denn er hat einen Master als Chemieingenieur. Notwendig war das wohl nicht, denn nicht nur in Göttingen konnte der junge Mann stimmlich die Zuschauer überzeugen.

© Michael Ritter

(c) Magazin Frankfurt, 2024