Musikstadt Wroclaw

Wroclaw, vielen Älteren als alte Hauptstadt Schlesiens noch als Breslau bekannt, hat eine lange Musiktradition. 2016 demonstrierte sie diese Europa als Kulturhauptstadt. Die lebendige Stadt hat sich in den letzten Jahren chic herausgeputzt und hat ihren Gästen viel zu bieten. Begleiten Sie unseren Autor auf einen kulturellen Ausflug an die Oder.

In den letzten Jahren mehren sich die Bestrebungen vieler Länder und Städte, dass ihre Heimat nicht mehr mit den internationalen oder englischen Namen benannt wird, sondern mit dem eigenen, nationalen Namen. Auch in Polen möchte man lieber den polnischen statt den oft uns vertrauteren alten deutschen Namen hören. Einen Wunsch, den wir gerne erfüllen und die Hauptstadt Niederschlesiens statt mit Breslau mit ihrem polnischen Namen Wroclaw benennen.

Das Rathaus

(c) Michael Ritter

Herbstliches Musikfestival Wratislavia Cantans

Die Metropole an der Oder ist mit 640.000 Einwohnern die viertgrößte Stadt Polens. Für viele Deutsche dürfte auch Dolny Śląsk, der polnische Name der Woidwodschaft, also des Bundeslands, schwierig auszusprechen sein. Doch das stört die zahlreichen internationalen Touristen nicht, denn meist kommt man mit Englisch oder Deutsch gut zurecht beim Bummel durch die lebendige Innenstadt. Das Festival Wratislavia Cantans ist eines der bedeutendsten Musikereignisse Polens und lockt alljährlich mit hochkarätig besetzten Konzerten der schönsten Oratorien, Kantaten und Symphonien Einheimische und Besucher an. Eine gute Gelegenheit die zahlreichen Konzertstätten der Stadt kennenzulernen. Die hohe Qualität polnischer und ausländischer Gäste sorgte bei den meist polnischen Festivalbesuchern für große Zustimmung.

Früher war das Konzertgeschehen über viele Aufführungsorte in und um Wroclaw verteilt, doch nachdem die Stadt 2016 zur Kulturhauptstadt Europas gekürt wurde, konnte auch das neue Nationale Musikforum NFM fertiggestellt werden und mit ein paar exzellenten Konzertsälen einen Großteil der Aktivitäten des Festivals einen idealen Ort bieten.

Der größte Saal fasst beinahe 1800 Sitzplätze und macht Wroclaw unbestritten zu einem der bedeutendsten Kulturzentren des Landes.

Einst nannte man die Stadt an der Oder „Blume Europas“ und erhob sie vor wenigen Jahren zur „Best Destination“ Europas. Trotz der mehr als 1.000 Jahre, die sie auf dem Buckel hat, ist sie jung und vital geblieben. Das liegt sicherlich auch an den mehr als 100.000 Studenten, die unübersehbar Stadtbild und Freizeitangebot prägen. Rund um den Rynek, den historischen Marktplatz, finden die zahllosen Kneipen, Klubs und Restaurants problemlos ihre Gäste.

Der Rynek von oben

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Lebendige Altstadt rund um den Rynek

Das gotische Rathaus gehört zu den wichtigsten mittelalterlichen Bauten Europas. Rundherum liegt der nach Krakau zweitgrößte Marktplatz Polens. Im Rathauskeller mit seinen labyrinthartigen Räumen befindet sich schon seit 700 Jahren die größte Schankstube der Stadt. Früher sagte man „Wer nicht im Schweidnitzer Keller war, war nicht in Breslau“. Gäste wie Chopin und Goethe folgten diesem Rat, doch heute bietet sich auch auf dem Platz und in den engen Gassen der Altstadt vielfältige Gelegenheit zu beobachten und zu genießen, denn neben dem jungen Volk sorgen auch prachtvolle Bürgerhäuser aus Barock, Renaissance und Jugendstil für schöne Ausblicke.

Doch nicht alle Teile der Stadt sind so umtriebig wie die Gassen der Altstadt zwischen Markt und der barocken Universität. Wer eine Oase der Ruhe sucht, findet diese auf der nahen Dominsel, die heute eigentlich gar keine Insel mehr ist.

Hier begann die Besiedlung der Stadt und während es am Markt und rund um die Universität von weltlichen StudentInnen nur so wimmelt, sammeln sich rund um den Dom und die sechs anderen Kirchen der Dominsel Grüppchen von jungen Klerikern mit weißem Kollar. Vielleicht passt es in dieses klerikale Umfeld, dass noch heute beim Einsetzen der Dämmerung ein Laternenanzünder seine Runde dreht. Oft braucht die katholische Kirche ihre eigene Zeit, um sich auf die Herausforderungen der Jetztzeit einzustellen. Auch im noch immer stark klerikal geprägten Polen wachsen vor allem in den Städten inzwischen Reformbewegungen.

Der Dom, die Kathedrale St. Johannes des Täufers, stammt aus dem Mittelalter und dient heute auch als Konzertstätte. Bis in unser Jahrtausend hinein war er mit seinen fast 98 Meter hohen Doppeltürmen das höchste Gebäude der Stadt.

Großer Saal im NFM

(c) Michael Ritter

Wratislavia Cantans 2024

IM NFM

(C) Michael Ritter

Doch zurück zu Wratislavia Cantans, dass in diesem Jahr vom 5. bis 15. September 2024 seine 59. Auflage erlebt und dessen Eröffnungsveranstaltung im neuen NFM stattfinden wird. Da diesjährige Motto könnte aktueller kaum sein: „Migrations“. Auch wenn sie momentan politisch aufgeheizt sind, gab es sie schon seit langer Zeit. Giovanni Antonini, der als künstlerischer Leiter das Festival zum zwölften Mal zusammenstellt, fand erst kürzlich heraus, dass auch Georg Friedrich Händels Großvater Valentin seine Wurzeln in Breslau hatte, bevor er nach Halle auswanderte. Antonini versteht Migration als einen Fluss von Ideen und Menschen.

Zum diesjährigen Programm gehören zwei Oratorien des großen Deutschen, der später England zur Heimat wählte. Antonini eröffnet das Festival am 5. September mit seinem Orchester Il Giardino Armonico und Solisten wie der sensationellen russischen Sopranistin Julia Lezhneva mit dem Oratorium „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“. „Israel in Ägypten“ wird wenig später Václav Luks mit seiner fantastischen Formation Collegium und Collegium Vocale 1704 in Wroclaw zu hören sein.

Am 6. September gibt der Israeli Avi Avital Einblicke in die Kunst der Mandoline, die einer kleinen Laute ähnelt. Sie wurde in Italien entwickelt, erfreute sich aber schnell weltweit auch in der Volksmusik großer Beliebtheit. Avital spielt barocke Werke von Scarlatti, Vivaldi und Bach und wird begleitet vom Cembalisten Sebastian Wienand.

Auch dem Schöpfer des Wratislavia Cantans Festivals, dem Dirigenten und Musiker Andrzej Markowski, widmet das Festival zu seinem 100. Geburtstag am 12. September in der Kathedrale St. Maria Magdalena ein besonderer Abend, bei dem die Schlesische Philharmonie Lieder von Henryk Mikołaj Górecki aufführt, darunter ein eigens für den Geburtstag komponiertes Stück: „1944“. Damit erinnert man an Andrzej Markowskis Teilnahme am Warschauer Aufstand.

Mit dem 1941 in Breslau geborenen Maestro Christoph Eschenbach kehrt ein alter Breslauer nach vielen Jahren in seine Heimatstadt zurück, um dann als künstlerischer Leiter die NFM Breslauer Philharmonie zu übernehmen. Er wird zum Abschluss des Festivals am 15. September beim Konzert „New Beginnings“ mit dem Orchester und zwei Werken von Anton Bruckner, der 3. Messe f-Moll WAB 28, begleitet vom NFM-Chor und der „Nullten“ Sinfonie No. 0 d-Moll WAB 100 „Die Nullte“ zu hören sein.

Die Tickets für das Festival sind mit Preisen zwischen 2,50 und 40 Euro günstig, einige Veranstaltungen sind aber bereits ausverkauft.

Oper Wroslaw

(c) Michael Ritter

Die Oper Wroclaw

Eine weitere wichtige Musikstätte Wroclaws ist das neben dem Nationalen Musikforum liegende und vom Breslauer Architekten Carl Ferdinand Langhans entworfene klassizistische Opernhaus der Stadt. Einst trat dort der 17-jährige Carl Maria von Weber seine erste Stelle als Kapellmeister an – als bisher jüngster der Musikgeschichte. Mit seinen Neuerungen und Bemühungen, das künstlerische Niveau der Oper zu heben, machte er sich nicht nur Freunde. Ein Schicksal, dass auch eine seiner Nachfolgerinnen teilte. Bei meinem ersten Besuch vor 15 Jahren sorgte die Dirigentin Ewa Michnik für ein hohes Niveau der Aufführungen in dem nach der Jahrhundertflut von 1997 restaurierten Opernhaus. In der Bauzeit wich sie für Aufführungen auf andere Aufführungsorte wie die etwas außerhalb am Rande eines Parks gelegene Jahrhunderthalle aus und sorgte mit einem glänzenden Programm für frischen Wind und große internationale Anerkennung. Für die Aufführung von Verdis Aida setzte Michnik auf Afrikas Tierwelt, indem sie einige Exoten aus dem benachbarten Zoo auslieh. Sie war die erste Frau, die in Europa Wagners gesamte Tetralogie mit großem Erfolg dirigierte. Leider wurde die Spielzeit 2015/2016 nach 20 Jahren auch ihre letzte in Breslau, denn Michnik wurde Opfer der neuen Kulturmacht der PIS-Partei unter Kaczyński, der sie durch einen angepassten Dirigenten ersetzte, der inzwischen auch schon wieder Geschichte ist.

Auch wenn keine Konzerte stattfinden, ist die erwähnte Jahrhunderthalle eines der Bauwerke, die Wroclaw zum Mekka der Klassischen Moderne machen. 1913 von Max Berg errichtet, verfügt sie über die größte freitragende Kuppel der damaligen Zeit - mit einem Durchmesser von 130 Metern. 2006 ernannte man sie zusammen mit dem benachbarten Vier-Kuppel-Pavillon, der als Museum für zeitgenössische Kunst genutzt wird, zum Welterbe der UNESCO. Mit einem Fassungsvermögen von bis zu 6.000 Sitzplätzen war und ist sie ein idealer Platz für die Megaaufführungen der Breslauer Oper.

Die politisch instrumentierten Wechsel haben der Oper nicht wirklich gutgetan. Wir konnten beim Besuch den weltbekannten Bariton Mariusz Kwiecień treffen, der sich als strahlender Held an den großen Opernhäusern der Welt, wie der New Yorker Metropolitan Opera, Covent Garden und der Mailänder Scala einen Namen machte. Ein Rückenleiden zwang ihn 2020 zur Aufgabe seiner Sängerkarriere und er übernahm in der Corona-Zeit die Künstlerische Leitung der Oper. Kwiecień beklagte die durch die Pandemie und mangelnde finanzielle Unterstützung des Staates verursachten Schäden mit langen Ausfällen des Kulturbetriebs. Inzwischen sind die großen internationalen Stars wieder zurück, aber auch die jugendlich-frischen Inszenierungen mit dem sehr jungen Ensemble begeisterten das treue Publikum durch viel Spielfreude.

Die restaurierte Engler-Orgel

(c) Michael Ritter

Die restaurierte Engler-Orgel

Orgelkonzert in der St. Elisabeth-Kirchet)

(c) Michael Ritter

In der Nachbarschaft des Rynek liegt die eindrucksvolle St. Elisabeth-Kirche, die den eigentlichen Grund meiner Reise nach Wroclaw beherbergt: die frisch restaurierte barocke Engler-Orgel. Einst nannte man die Orgel aus dem 18. Jahrhundert die "Stimme Schlesiens". 1750 begann der erfahrene Breslauer Orgelbauer Michael Engler mit ihrem Bau, den später sein Sohn Gottlieb Benjamin und sein Schwiegersohn Gottlieb Ziegler fortsetzten und fertigstellten. Es wurde eine der beeindruckendsten Orgeln des Landes und man kann gut das Entsetzen der Bevölkerung verstehen, als 1976 ein Brand Teile der Kirche und die Orgel zerstörte. 2011 stand der Entschluss fest, die alte Orgel so detailgenau wie möglich mit den verbliebenen Resten zu rekonstruieren. Während andernorts mächtige neue Orgeln in die Konzertsäle der Welt hineingebaut wurden, wurde hier in einem in dieser Größe einzigartigen internationalen Millionen-Projekt die Stimme Schlesiens neu zum Erklingen gebracht. Seit Anfang 2022 ist das Opus Magnum nach fast zwei Jahren Bauzeit vollendet und die Zusammenarbeit der renommierten Bonner Orgelbaufirma Klais aus Bonn, die schon mit ihrer Konzertorgel im Nationalen Musikforum überzeugen konnte, war vom Erfolg gekrönt.

Klais ist weltweit einer der führenden Orgelbauer – ein „Hidden Champion“. Prachtvoll die dekorative Front mit ihrem vergoldeten Prospekt und den Holzfiguren von Engeln und Propheten des Alten Testaments. Über 200 Bildhauer, Maler und Zimmerleute wirkten an dem Bau mit, für den die bis zu 12 Meter hohen aber auch teilweise nur 6 mm kleinen Pfeifen maßgefertigt wurden.

"Es wird mit Sicherheit eines der besten Instrumente in Europa sein, eine echte Vertreterin der barocken Welt, es gibt nur wenige solche Orgeln, die bis heute erhalten geblieben sind" - bemerkte der Orgelbauer Andrzej Lech Kriese als Vertreter des Konsortiums, das die Ausschreibung gewonnen hatte. Wir treffen an der Orgel den Leipziger Stefan Kießling. Der international befragte Konzertorganist war einst Hilfsorganist an Bachs St. Thomas-Kirche in Leipzig, der einstigen Wirkungsstätte Johann Sebastian Bachs. Natürlich präsentierte er den begeisterten Breslauern einige Werke des Meisters und seines Sohns Carl Philipp Emanuel und war sehr angetan von der Akustik der fachmännisch rekonstruierten Orgel.

Das Orchester vor dem NFM

(c) Michael Ritter

Der Weg nach Wroclaw

Auf der Dominsel

(c) Michael Ritter

Wratislavia Cantans wäre ein schöner Anlass für einen Besuch und ein Treffen in dieser Stadt des Zusammenlebens von Religionen und Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart. Ein guter Ort um mit Musik über eine freundliche Zukunft nachzudenken. Zu erreichen ist Wroclaw gut mit dem Flugzeug von verschiedenen deutschen Flughäfen, aber auch mit dem Auto über die Autobahn. Teuer wird nur das Parken im Zentrum, denn freie Parkplätze gibt es nicht und einen Parkplatz sollte man am besten gleich zusammen mit dem Hotel buchen. Auch der FlixBus fährt nach Wroclaw. Die Bahn eignet sich eher für Reisende aus dem Osten Deutschlands, da eine Fahrt zum Beispiel aus Frankfurt mit 8 bis 10 Stunden dauert und mit mehrmaligem Umsteigen verbunden ist. Sonst lohnt der Hauptbahnhof von Breslau aber allein schon wegen seiner architektonischen Schönheit.

Bezahlt wird in Wroclaw mit dem Złoty, von denen man für einen Euro gut 4,2 erhält. Man kann fast überall mit den gängigen Kreditkarten bezahlen. Oft lohnt bei kürzeren Aufenthalten die dann anfallende Gebühr für den Auslandseinsatz.

Wohnen und Essen in Wroclaw

Auch Gourmets können in Wroclaw lukullische Entdeckungen zu vernünftigen Preisen machen. Immer wieder gibt es neben den bekannten Zielen etwas Neues und Sehenswertes zu entdecken. Eine der gediegensten Unterkünfte der Stadt mit ausgezeichneter Küche und einer wunderschönen Dachterrasse für einen Sundowner liegt genau neben der Oper: das neobarocke 5-Sterne-Superior-Hotel Monopol. Vor 130 Jahren errichtet, diente es unter anderem Marlene Dietrich, Gerhart Hauptmann, Pablo Picasso, Lilian Harvey und Joachim Ringelnatz als Quartier. Ein bisschen weniger pompös, aber durch seine zentrale Lage nur ein paar Meter entfernt vom Rynek ist das 4-Sterne Art Hotel.

Essen kann man fast überall im Zentrum. Die Preise sind günstiger als in Deutschland. Sowohl die internationale wie die klassische polnische Küche ist weitverbreitet und man wird meist sehr freundlich bedient. Wie wär’s zum Beispiel mit einer Sous vide gegarte Ente im Przystan, von dem man einen schönen Blick auf die Oder und das sich darin spiegelnde Universitätsgebäude genießen kann?

© Michael Ritter

(c) Magazin Frankfurt, 2024