Auf eine spannende Reise in die Welt der deutschen Romantik nimmt uns die französische Pianistin Hélène Grimaud in ihrer jüngsten Einspielung für die Deutsche Grammophon. Die Tochter eines Lehrerehepaares kam im provenzalischen Aix-en-Provence zur Welt, wo sie als Tochter eines sephardischen Juden aus Afrika, der als Kind von einer französischen Familie adoptiert wurde und der Nachfahrin jüdischer Berber von Korsika, aufwuchs. Schon vor ihrer Geburt wechselte die Familie den Familiennamen vom italienischen Grimaldi an. Richtig wohl gefühlt habe sie sich in Frankreich nie, bekennt die Musikerin, die als Kind an ADHS litt. Ihr Leiden legte sich erst, nachdem sie in Kontakt zur Musik kam. Als Synästhetikerin nimmt sie beim Hören Farben wahr. Schon als Jugendliche hatte sie ihren ersten Plattenvertrag und erreichte internationale Bekanntheit.
Schon damals legte sie sich ihren ganz eigenen unkonventionellen Stil zu, dem sie seitdem folgt. In Florida, wohin sie seit 1990 mit dem US-Fagottisten Jeff Keesecker lebte, begegnete sie der Wölfin Alawa, die ein Bekannter als wildes Haustier hielt. Sie lies sich schon bei ihrer ersten Begegnung streicheln, was ungewöhnlich war und Grimaud innerlich berührte, wie sie in ihrer Autobiografie Wolfssonate beschreibt. Sie adoptierte daraufhin zwei Wölfe. Auch nach ihrer Trennung von Keesecker blieb ihre Verbundenheit mit den Wölfen erhalten. In New York City hielt sie eine Weile einen Wolfswelpen, bevor sie mit ihrem neuen Partner aufs Land zog, knapp zweieinhalb Hektar Land kaufte und dort neben ihrem Haus ein Wolf Conservation Center einrichtete, das sich der Zucht, dem Schutz und der Reintegration von Wölfen in natürlicher Umgebung widmete und Kinder und Jugendliche durch die Begegnung mit Wölfen für ökologische Zusammenhänge und Artenschutz sensibilisierte. Nach einem auch von Krankheit bestimmten Jahrzehnt in der Schweiz, lebt die Künstlerin seit 2014 mit ihrem aktuellen Lebensgefährten, dem deutschen Fotografen Mat Hennek, mit dem sie in den letzten Jahren bei Steidl mehrere multimediale Projekte realisiert hat, wieder in New York. Seit 20 Jahren ist sie bei der Deutschen Grammophon unter Vertrag.
»Ich hatte immer eine besondere Beziehung zu den deutschen Romantikern«, sagt Hélène Grimaud in einem Interview mit der Deutschen Welle. »Das sind Welten, da scheint es mir, als könne ich genau erfassen, was der Komponist im Sinn hatte.« Auf ihrem neuesten Album „For Clara“ widmet sich die Pianistin zum einen der Musik von Robert Schumann und seinem Schützling Brahms, zum anderen vollzieht sie nach, was beide Männer mit der Pianistin und Komponistin Clara Schumann, geborene Wieck, verband. Grimaud spielt Schumanns Kreisleriana, ein Werk, das sie fast ihr ganzes Leben lang kennt und 1988 schon einmal aufgenommen hat, und kombiniert es mit Brahms’ drei Intermezzi op. 117 und seiner Sammlung von neun Liedern und Gesängen op. 32. In ihnen wird sie vom Bariton Konstantin Krimmel begleitet, ihrem musikalischen Partner auf dem Silvestrov-Album Silent Songs, das Anfang des Jahres erschienen ist (»Konstantin Krimmel und Hélène Grimaud verdienen höchstes Lob für ihre souveräne und ungekünstelte Interpretation dieser schönen, traumhaften Musik«, BBC Music Magazine).
„For Clara“ erscheint am 8. September 2023 auf CD, Vinyl und digital. |
Hélène Grimauds Darbietung der Kreisleriana, die im Juni 2022 in der bayerischen Klosterbibliothek Polling gefilmt wurde, ist ab dem 10. Juli auf STAGE+ zu sehen, während ihr Berliner Recital mit Konstantin Krimmel mit u.a. Brahms’ Liedern und Gesängen dort bereits abrufbar ist. Grimauds Aufnahmen von zwei weiteren Brahms-Intermezzi – op. 116 Nr. 2 in a-Moll und op. 118 Nr. 2 in A-Dur – werden am 13. Oktober respektive 24. November als e-Single veröffentlicht.
In einem Brief an seine geliebte Clara im Frühjahr 1838 – noch zwei Jahre sollten vergehen, bevor er Clara endlich heiraten konnte – bekundet Robert Schumann, wie sehr es um sie geht, »in dem Heft neuer Dinge«, an dem er gerade sitzt – »da wirst Du lächeln so hold, wenn Du Dich wieder findest«. Er nannte die Sammlung von acht Soloklavierstücken Kreisleriana, nach Johannes Kreisler, dem überspannten Kapellmeister aus der Feder von E. T. A. Hoffmann. Die Kreisleriana ist »eines der erhabensten, transzendentesten Stücke in der Klaviermusik der Romantik«, sagt Grimaud, Musik voll Zärtlichkeit und Turbulenz, Unruhe und Stille. Grimaud überlässt sich im Spiel ganz der formwandlerischen Fragilität und den frappierenden Stimmungswechseln, die charakteristisch sind für die erdichtete Figur wie für den Komponisten selbst.
Brahms lernte die Schumanns 1853 schon als junger Mann mit 20 Jahren kennen. Sowohl Robert wie Clara waren von seiner Musik sehr angetan und setzten sich sofort dafür ein. Clara nahm seine Werke in ihr eigenes Konzertprogramm auf. Als sich der Gesundheitszustand Roberts verschlechterte, entwickelte sich zwischen ihr und Johannes eine tiefe Freundschaft, die bis zu ihrem Tod 1896 andauerte. Noch im Alter legte Johannes großen Wert auf Claras Urteil, zum Beispiel zu den drei auf dem Album eingespielten elegischen Intermezzi aus dem Jahr 1892. »Grimaud bot diese tiefgründigen musikalischen Herzensergießungen so, wie sie vom Komponisten wohl intendiert sind: als klingende Rückschau auf ein reiches Künstlerleben. Mit Herbstfarben, dazu melancholisch, grüblerisch«, schwelgten die Kollegen von der Badischen Zeitung über ein Konzert in Freiburg.
Die neun Lieder aus Brahms' op. 32 stammen aus den frühen 1860er-Jahren und der Komponist vertont damit Lyrik von Georg Friedrich Daumer und August von Platen. Die beiden Dichter wurden in ihrer Auseinandersetzung mit orientalischen Gedichten vom persischen Dichter Hafis inspiriert. Zwar sind die Gedichte alle in der ersten Person geschrieben, doch Brahms hat keinen verbindenden narrativen Faden in seiner Auswahl. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass man das Werk heute nur selten in Gänze hört. Schade - und man möchte Grimaud und Krimmel danken, dass sie mit Passion, Verlust, Hingabe und Desillusionierung ein wahres Panoptikum der Gefühle evozieren. Wort und Musik spiegeln wohl auch das Empfinden von Johannes gegenüber Clara wider, wenn es mit »Wie bist du, meine Königin« ausklingt.
Was Grimauds eigene Liebe zu den Romantikern angeht, so ist sie ungebrochen. »Das Band von einst hat sich weiterentwickelt«, sagt sie, »aber es hat nie an Bedeutung verloren und wird vielleicht bis zum Ende halten.«
Robert Schumann/Johannes Brahms, For Clara, Hélène Grimaud, Deutsche Grammophon , CD, 73 Minuten, ASIN B0C4WS96QX, 19,99 Euro |