Dennis Lehane gilt als ein Meister des Thrillers. Der Autor irischer Abstammung kam 1965 in Dorchester einen der weißen Vororte Bostons zur Welt und unterrichtet Creative Writing - unter anderem an der renommierten Harvard University. Etliche seiner Bücher wurden erfolgreich mit Staraufgebot verfilmte, wie ›Mystic River‹ und ›Shutter Island‹ - zwei Weltbestseller. Lehane lebt inzwischen in Kalifornien und Boston.
In seinem neuen Buch schont Dennis Lehane nichts und niemanden. Möglicherweise könnte der großartige neue Roman sein letzter sein, denn Lehane arbeitet seit langem mit Apple TV+ an Film- und Fernsehprojekten und plant nun, dies künftig hauptberuflich zu tun. Auch die Verfilmung von Sekunden der Gnade ist dort schon in der Planung. Das- Buch nimmt den Leser mit ins Boston des Jahres 1974, wo die Stadtverwaltung gerade die Desegregation in den Schulen einführen will und mit Schulbussen die Kinder aus schwarzen Stadtteilen in weiße Viertel und umgekehrt bringen will. Das hört sich für den heutigen Leser vielleicht gut an und wie ein Kampf gegen Rassismus, aber die zuständigen Politiker und ihre Kinder sind nicht davon betroffen, da sie im Speckgürtel der Stadt mit privaten Schulen leben und diese von ihnen beschlossene Regelung für die eigenen Kinder nicht gilt. Ohnehin leben damals kaum schwarze Mitbürger in den reicheren Vierteln.
Zwar spielt das Buch vor knapp 50 Jahren, doch vieles von der Politik, die selbsternannte Eliten ihren Wählern aufdrücken wollen, erinnern an die Jetztzeit - nicht nur in den USA. Lehane konzentriert sich in seinem Buch auf die allgemeine Bigotterie, die eigentlich veraltet sein müsste, es aber nicht ist: Das weiße, irisch-amerikanische South Boston ist buchstäblich in Aufruhr wegen der Integration. Ein junger Schwarzer kann sterben, nur weil er sich am falschen Ort verirrt.
Lehane erzählt seine Geschichten nur sehr selten aus weiblicher Sicht. In "Sekunden der Gnade" ist die Erzählung aufgeteilt zwischen seiner Protagonistin Mary Pat Fennessy, einer echten Rabaukin. Die 42-jährige, die man in ihrer Jugend als "süß" bezeichnet hatte, ist nach zwei gescheiterten Ehen völlig pleite. Ihr Sohn hat erst in Vietnam leidvolle Erfahrungen gesammelt, sich nach der Rückkehr viel geprügelt und ist letztlich auf dem örtlichen Spielplatz an einer Heroin-Spritze gestorben. Ihre Erleichterung findet Mary Pat wenig freudvoll bei schalem billigem Bier, denn der Kühlschrank funktioniert wegen der Stromsperre ebenso wenig wie der Herd. Wenn sie im ebenfalls nicht laufenden Fernseher ihr Spiegelbild betrachtet, hat das wenig mit dem zu tun, was sie ein Vierteljahrhundert zuvor einmal gewesen war. Nur ein verschwitzter Klumpen mit verfilztem Haar und schlaffem Kinn hat, in Tanktop und Shorts. |
Den anderen Part spielt der Cop Michael "Bobby" Coyne, der den Tod des jungen toten Schwarzen aufklären soll. Lehane macht sich nicht die Mühe, seine Figuren zu vorzustellen, wie einige seiner Kollegen. Sie werden den Leser mit all ihren Problemen und Sorgen vor die Augen geworfen und im Laufe der Unterhaltungen mit Nachbarn, Bandenmitgliedern und Verwandten entfaltet sich vor uns ihr Leben und ihre Sorgen. Der Tag, an dem wir Mary Pat kennenlernen wird ein Wendepunkt in ihrem Leben werden, denn ihre 17-jährige Tochter Jules ist am Abend mit Freunden ausgegangen und dann nicht mehr zurückgekehrt. Mary Pat sieht sich, im Unterschied zu vielen Nachbarn, Verwandten und Kollegen nicht als Rassistin. Und tatsächlich ist eine Kollegin im Pflegeheim, in dem sie arbeitet, trotz Anfeindungen anderer ihre einzige schwarze Freundin. Erschrocken stellt sie am nächsten Tag bei der Arbeit fest, dass diese nicht zum Dienst erschienen ist, was für sie sehr ungewöhnlich ist. Der Grund wird schnell durch einen Fernsehbericht und aus der Zeitung klar: Ihr kluger Sohn, Augustus Williamson, ist tot auf einem Bahnhof aufgefunden worden. Alle Weißen vermuten ohne jede Grundlage einen Mord im Drogenmilieu. Lehane berichtet darüber so schonungslos, dass es erschreckt.
Auf der Suche nach ihrer Tochter gerät Mary Pat mehrmals mit Fäusten und dem Messer mit dem Freund ihrer Tochter aneinander, einen tumben Schönling, dessen "Gesprächsfähigkeit eines gebackenen Schinkens" ihre Tochter offenbar fälschlicherweise für Coolness gehalten hat. Auch die örtliche Bande um Marty Buttler ist von ihren Recherchen nicht begeistert und versucht sie zu unterbinden. Das Buch vermittelt einen guten Eindruck von der rassistischen Grundeinstellung die - zumindest damals - die katholischen Irisch Amerikaner zerfraß wie ein Krebs. Provinziell und verschlossen schotteten sich die Nachbarschaften ab. Rassismus tritt dabei eher als eine Form des Selbstmitleids auf. Wer verlassen wird, wird rachsüchtig, schlussfolgert Lehane. Auch Senator Edward Kennedy bekommt in dem Buch, wie damals, als sich der Konflikt 1974 wirklich abspielte, seinen Dreck ab. Geschrieben hat Lehane das Buch während der Pandemie und es bietet sich hervorragend als Drehbuch an. Eines seiner stärksten Bücher.
Dennis Lehane, Sekunden der Gnade, Diogenes, Hardcover, 400 Seiten, ISBN 978-3257072587, 26 Euro |