Auch bei uns spaltet der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 die Gesellschaft. Die Menschen waren schockiert über die Gewalt, die eine Gruppe von Hamas-Kämpfern über Unschuldige Menschen gebracht hatte. Viele wurden getötet, vor laufender Kamera gequält und in den Gaza-Streifen verschleppt. Es gibt wahrscheinlich nur sehr wenige Menschen, die das als normale Aktion hingenommen haben. Das völlig überrumpelte Israel reagierte so schnell wie möglich, berief seine Soldaten ein und begab sich schon nach kurzer Zeit auf den Weg in den Gaza-Streifen. Ziel: die Zerstörung der Hamas und die Befreiung der Geiseln.
Die Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates von 1967 bestätigt Israels Recht, in sicheren, auszuhandelnden Grenzen zu leben. Einige arabische Staaten stimmten der Resolution zu und erkannten Israels Existenzrecht an. Bis 2020 waren dies 162 UN-Mitgliedsstaaten. Deutschland, als das Land, das Millionen Juden während des Holocaust ermordet hatte, betrachtet seitdem das Existenzrecht Israels als Staatsräson, die Vorrang über alle anderen Interessen hat. Hatte die Mehrheit der Menschheit anfangs noch volles Verständnis für die Reaktion Israels, kippt in den folgenden Monaten die internationale Stimmung, nachdem das israelische Militär bei seinem Vorgehen gegen die Hamas Kollateralschaden akzeptiert und Zigtausende unschuldige tote Kinder, Frauen und Greise tötet und damit nach Auffassung der UN selbst Völkermord begeht.
Auch in Deutschland ist die Stimmung gespalten. Während ein Teil unverbrüchlich an Israel festhält und seine Aktionen im Gazastreifen rechtfertigt, sehen andere durchaus kritisch auf das Verhalten der israelischen Politik und seines Militärs. Ist die Hamas eine Freiheitsarmee. "Man kann die Vorfälle des 7. Oktober gutheißen oder nicht. Das ist vollkommen Ansichtssache" sagte unter anderem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Während im deutschen Fernsehen das Wort Hamas unweigerlich und immer mit dem Begriff Terror-Organisation verbunden wird und damit einseitig Stellung bezogen wird, mahnt Erdogan: "Nur weil Israel und seine westlichen Unterstützer das wollen, werden wir nicht zu denen gehören, die die Hamas beschuldigen, eine Terrororganisation zu sein." |
Auch bei uns sind die Fronten innerhalb der Gesellschaft verhärtet, der Konflikt kocht in Familien, unter Arbeitskollegen und unter langjährigen Freunden - etliche davon sind zerbrochen. Insofern war es interessant zu hören, dass mein israelischer Lieblingsautor Dror Mishani, dessen Krimis um Avi Avraham ich immer verschlinge und der darin ein sehr besonnenes verhalten an den Tag legt, zu den ersten Monaten nach dem Überfall für den Diogenes-Verlag ein Tagebuch geführt hat.
Ich hatte mich nicht in ihm getäuscht. Auch für den Schriftsteller wurde mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel mit einem Schlag alles anders. Zwischen Luftalarm, kontroversen Diskussionen mit den Teenagerkindern am Küchentisch, Freiwilligenarbeit auf Salatfeldern und dem Versuch, auch in Kriegszeiten Alltag zu leben und zu schreiben, hält Dror Mishani fest, wie der Gaza-Krieg die israelische Gesellschaft und seine Familie verändert – und hält daran fest, dass das Leid auf beiden Seiten aufhören muss. Ein sehr lesenswertes Buch, dass auch ein anderes auf Dialog und Zusammenleben ausgerichtetes Israel zeigt und nicht nur das kraftstrotzende Bild, dass Netanyahu gerne verbreiten möchte. Gegen Ende des Tagebuchs lesen wir, wie Mishani sich an die Arbeit für einen Essay über einen seiner Lieblingsautoren in der Tageszeitung Haaretz macht. Auch darin äußert er zwischen den Zeilen ein Besinnen auf tiefere Werte. Solche als Kritik am Staat verstandene Äußerungen haben in den letzten Monaten in Israel die "Jäger" auf den Plan gerufen, die Abweichler als Verräter brandmarken. Mishani, der eigentlich nicht möchte, dass sein Tagebuch auf Hebräisch erscheint, fragte sich daraufhin, ob dies nicht nebensächlich sein, wenn sein Artikel erscheint.
Dror Mishani, Fenster ohne Aussicht - Tagebuch aus Tel Avis, Diogenes, Hardcover, 224 Seiten, ISBN 978-3257073089, 26 Euro |