Ihr Vater kritisierte die Kolbennasen und Löffelhände im Werk seiner Tochter, aber auch außerhalb der Familie fand die Kunst von Paula Modersohn-Becker nicht nur Freunde, denn die junge Künstlerin war ihrer Zeit voraus. Die 1876 in Dresden geborene Künstlerin gilt als eine der bedeutendsten Vertreterinnen des frühen Expressionismus. Zwar riss sie eine Embolie kurz nach der schwierigen Geburt ihrer Tochter Mathilde im Alter von 31 Jahren aus dem Leben, so dass sie nur knapp 14 Jahre hatte, in denen sie künstlerisch tätig war, doch schuf sie in dieser Zeit 750 Gemälde, etwa 1000 Zeichnungen und 13 Radierungen, die kennzeichnende Aspekte der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts in sich vereinen – rund ein Gemälde pro Woche.
Ab 1898 lebte die Künstlerin in der Künstlerkolonie Worpswede, unterbrochen durch vier längere Aufenthalte in Paris. Ihr Œuvre spiegelt die Einflüsse dieser beiden gegensätzlichen Orte deutlich wider. Trotz fehlender weiblicher Vorbilder und auch während ihrer Ehe mit dem Worpsweder Landschaftsmaler Otto Modersohn verfolgte sie mit großer Disziplin ihre eigenständige Entwicklung. Ihre Werke entstanden in oft einsamer Auseinandersetzung mit der älteren Kunstgeschichte und aktuellen Tendenzen der Kunst, die sie in der französischen Metropole studierte. In Werkserien umkreist sie ein Repertoire von Bildmotiven wie Porträts, Selbstporträts und Kinderbildnisse, Bauern und Bäuerinnen und Landschaften aus Worpswede und Paris sowie Stillleben. Dabei fand sie zu überzeitlichen, allgemeingültigen Bildern und unabhängigen Darstellungen. Ihre Arbeiten sind rigoros, bisweilen radikal anders als die ihrer Zeitgenossen. |
Dem hohen eigenen Anspruch der Künstlerin steht ihr zu Lebzeiten völlig ausbleibender äußerer Erfolg gegenüber. Erst nach ihrem Tod wurde ihr Werk als Entdeckung gefeiert, gesammelt und ausgestellt, dabei in seiner Ambivalenz vielfach vereinnahmt.
Wie keine andere deutsche Künstlerin der Klassischen Moderne hat in der öffentlichen Wahrnehmung einen legendären Status erreicht. Ihr umfassendes und facettenreiches Œuvre, das über 100 Jahre zur Projektionsfläche wurde, fasziniert bis heut. Bis zum 6. Februar 2022 zeigt die Schirn wichtige Werke aus dem Gesamtwerk von Paula Modersohn-Becker in einer umfassenden Retrospektive. Darin wird deutlich, dass der Vorwurf des Vaters unberechtigt ist, denn ihr Malstil ist keinesfalls mangelnde Begabung, sondern Grund der von ihr gewollten Reduktion auf das Wesentliche. Damit setzte sie sich allerdings entschieden über gesellschaftliche und künstlerische Konventionen ihrer Zeit hinweg und nahm zentrale Tendenzen der Moderne vorweg. Die Ausstellung versammelt in Frankfurt 116 ihrer Gemälde und Zeichnungen aus allen Schaffensphasen. Etliche ihrer Hauptwerke, die heute als Ikonen der Kunstgeschichte gelten, wie das „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ aus dem Jahr 1906. Die Ausstellung wirft einen spannenden und aktuellen Blick auf das Werk dieser frühen Vertreterin der Avantgarde. In der nach prägnanten Serien und Bildmotiven gegliederten Präsentation stehen insbesondere auch Modersohn-Beckers außergewöhnlicher Malduktus und ihre künstlerischen Methoden im Fokus, die zu einer vielfältigen Rezeption ihres Schaffens beitrugen.
Michael Ritter |