Lewinsky, Halbbart

Vor gut einem Jahr war ich in Zürich und hatte von dort aus einen Ausflug zu dem Winzern rund um den Zürchsee unternommen. Eine der wichtigsten Stationen auf diesem Ausflug lag nicht direkt am See, zumindest nicht am Zürichsee, sondern war das Kloster Einsiedeln am Siehlsee. Mit seiner eindrucksvollen Abtei- und Kathedralkirche ist die Benediktinerabtei der größte Wallfahrtsort der Schweiz und eine bedeutende Station auf dem Jakobsweg. Die Schwarze Madonna in der Gnadenkapelle lockt jedes Jahr rund 800.000 Pilger und Touristen an. Der Besuch erfolgte an einem Wochenende, an dem die Kirche und auch der Weihnachtsmarkt davor gut besucht war. Heute leben rund 60 Benediktinermönche dort, zu einem derer Arbeitsgebiete auch der Weinbau gehört. Seit seiner Gründung im Jahre 1130 ist es zusammen mit dem Benediktinerinnenkloster Fahr bei Zürich ein Doppelkloster des Benediktinerorden. Auch die Pferdezucht, Holzverarbeitung und die Wahrung zahlreicher Kulturgüter machten die Klosterschola schon früh bekannt. Zum Kloster gehören zahlreiche Ländereien, wie die Insel Ufenau im Zürichsee und die Landzunge Endingen in Rapperswil und machen das Kloster mit mehr als 2.000 Hektar Land in verschiedenen Kantonen zum grössten privaten Grundbesitzer der Schweiz.

Schon in den Zeiten, als sich aus den Kantonen Ur, Schwyz und Unterwalden die erste Eidgenosschenschaft bildete existierte das Kloster mit damals noch etwas bescheideneren Ländereien, aber durch seine adligen Bewohner und derern Verbindungen einen beeindruckenden Einfluß druch den Schutz durch die Habsburger. Über Jahre zog sich ein Marchenstreit wegen des Besitzes einiger Alpweiden mit den Schwyzern hin, der 1314 dazu führte, dass Bauern das Kloster überfielen, plünderten und schändeten. Die Habsburger konnten diesen Frevel nicht ignorieren. Friedrich Schiller hatte Wilhelm Tell, den legendären Freiheitskämpfer dieser Zeit am Beginn des 14. Jahrhuinderts ein berühmtes Schauspiel gewidmet. Er wird wohl auch in der Schlacht bei Morgarten oberhalb vom Ägerisee mitgekämpft haben, wo Schweizer Freischärler unter dem Kommando von Walter Stauffacher, dem Landammann von Schwyz die Habsburger und ihre Verbündeten, die als Paten des Klosters Einsiedeln galten, unter Führung von Herzog Leopold I. vernichtend aus einem Hinterhalt heraus mit ihren Hellebarden schlugen.

Leopold konnte noch rechtzeitig fliehen, aber die fast 2.000 Gefallenen auf Seiten der Habsburger stärkte den Zusammenhalt zwischen Uri, Schwyz und Unterwalden.

Charles Lewinskys Roman führt uns mitten hinein in diese Zeit. Erzählt wird sie von dem Bauernjungen Eusebius, der von allen nur Sebi genannt wird. Sebi ist nicht gemacht für die Feldarbeit oder das Soldatenleben. Viel lieber hört und erfindet er Geschichten. Im Jahr 1313 hat so einer es nicht leicht in einem Dorf in der Talschaft Schwyz, wo die Hacke des Totengräbers täglich zu hören ist und Engel kaum von Teufeln zu unterscheiden sind. Doch vom Halbbart, einem Fremden von weit her, erfährt der Junge, was die Menschen im Guten wie im Bösen auszeichnet – und wie man auch in rauen Zeiten das Beste aus sich macht. Ein Roman voller Schalk und Menschlichkeit, der zeigt, wie aus Geschichten Geschichte wird.

Der 74-jährige Züricher Charles Lewinsky war nach dem Studium Regieassisten bei Fritz Kortner und später Regisseur an verschiedenen Theatern, Redakteur beim Schweizer Fernsehen und arbeitet seit 1980 als freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman "Melnitz" über die Geschichte der Juden in der Schweiz zwischen 1871 und 1945. Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. Auch "Der Halbbart" stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Im Sommer lebt er in der Region Bourgogne-Franche-Comté, im Winter in Zürich. Lewinsky ist jüdischer Herkunft, bezeichnet sich aber „nicht als Jude von Beruf“, wobei er es sich allerdings nicht verbietet auch in "Der Halbbart" einen Juden zum Titelhelden zu machen.

Charles Lewinsky, Der Halbbart, Diogenes, Hardcover, 688 Seiten, ISBN 978-3257071368, 26 Euro

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