Es ist inzwischen das weltweit älteste Festival für Alte Musik: Die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen. Seit 1920 finden sie jährlich in Göttingen statt und locken während zwölf prall gefüllten Festivaltage jedes Jahr mehr als 20.000 Besucher in die südniedersächsische Universitätsstadt an der Leine. Vor drei Jahren hat Jochen Schäfsmeier die Intendanz übernommen und hat Im Februar zusammen mit dem griechischen Dirigenten George Petrou als Künstlerischen Leiter das Programm des Festivals im Mai vorgestellt.
Üblicherweise steht immer eine der zahlreichen Händelopern auf dem Programm, aber wenn man in der Literatur oder im Internet nach Sarrasine sucht, wird man nicht fündig, sondern stößt nur auf eine Novelle von Honoré de Balzac aus dem Jahr 1830. Mit Händel kann das nichts zu tun haben, denn der war da schon mehr als 70 Jahre tot. Richtig, bestätigt George Petrou, es sei eine Geschichte über die Unkontrollierbarkeit von Liebe. Er hat zusammen mit dem Regisseur Laurence Dale die Novelle als Händel-Oper neu aufgelegt. Geschlechtertausch und sexuelle Doppeldeutigkeiten auf der Bühne waren auch bei Händel im 18. Jahrhundert völlig normal, wenn Sopranistinnen männliche Hauptrollen sangen und immer wieder Protagonisten von Kastraten dargestellt wurden, da sie durch ihre leuchtend brillanten Stimmen prädestiniert für die Heldenrollen waren und die Stars vom Publikum geradezu vergöttert wurden. Händel hat es Petrou leicht gemacht, denn er sorgte bei seinen Opern für eine Art Overkill, da er so viele Arien komponierte, dass er sie bei der Finalversion aussortieren musste. Das lag nicht an der Qualität, sagt Petrou. Etliche davon waren Meisterstücke, doch Händel verwarf den Einsatz in der Oper aus dramaturgischen Gründen und nutzte sie teilweise – ganz modern – als Teaser für eine Opernaufführungen.
Petrou hat sie jahrelang gesammelt und mit Balzacs Novelle neu arrangiert. Wir finden das ausgesprochen spannend, wenn auf diese Weise im 21. Jahrhundert eine neue Oper Händels entsteht, bei dem ein anspruchsvoller Text des 19. Jahrhunderts mit exzellenter Musik des großen Händels kombiniert wird. Wahrscheinlich wäre auch Balzac begeistert davon.
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In der neuen Oper Sarrasine über Madame de Rochefide, die mit dem Ich-Erzähler über einen Pariser Ball flaniert, beginnt der alte Bewohner des Hauses bei der Berührung der Madame ganz bizarr zu schreien. Als sie den Grund dafür erfahren möchte erzählt ihr ihr Begleiter, dass der Greis einst in Rom als Opernsängerin Zambinella auftrat, in die sich der Bildhauer Sarrasine verliebt ohne zu wissen, dass Zambinella ein kastrierter Mann ist. „À la Balzac“ nennen Literaturfans eine Geschichte, die dem Modell des „realistischen“ Romans folgt.
Neben Sarrasine gibt es während der Festspiele einige von Händels Oratorien und Konzerte in der Stadthalle, dem Deutschen Theater, Kammerkonzerte in der Aula der Universität und eine Reihe von Nacht- und Frühmorgenkonzerten, Crossover-Projekten und ein sehr abwechslungsreiches Rahmenprogramm.
Als vor 104 Jahren die Werke Georg Friedrich Händels in Göttingen ausgegraben wurden, war es noch ein mehr oder weniger lokales Projekt, den Händel war lange Zeit in Vergessenheit geraten. Mit der Oper Rodelinda begann die deutsche Händel-Renaissance. Inzwischen gibt es mit dem Händel-Festspielen in seiner Geburtsstadt Halle an der Saale, die ab dem 24. Mai mit hochkarätiger Besetzung quasi anschließen und den gerade laufenden Internationalen Händel-Festspielen in Karlsruhe ein breites Händel-Angebot für alle Liebhaber der barocken Musik.
(c) Michael Ritter |