Lyonel Feininger Retrospektive in der Schirn

Feininger Ausstellung Schirn mit Selbstproträt

© Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023, Foto: Norbert Miguletz

Lyonel Feininger, Manhattan I, 1940

The Museum of Modern Art, New York. Schenkung von Julia Feininger, 1964, © The Museum of Modern Art, New York / Scala,Florence / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Viele Kunstfreunde denken bei Lyonel Feininger sofort an Werke während seiner Zeit am Bauhaus in Weimar. Damals hat er in den Dörfern der näheren Umgebung der Stadt Skizzen gemacht und diese dann in seinem Atelier verarbeitet. Eine Kirche hat sich dabei stark in das Gedächtnis eingeprägt: die kleine Dorfkirche von Gelmeroda. Vor rund 1000 Jahren erbaut, diente sie ihm ab 1906 als Vorlage zu zahlreichen kubistischen Skizzen, Gemälden, Aquarellen und Holzschnitten. Inzwischen ist sie wegen der Lage des Dorfs zur Autobahn eine der Autobahnkirchen und 1999 erschuf man in Andenken an Feininger mit Halogenlampen eine Lichtskulptur, die in den Abendstunden am Himmel eine Wirkung erzeugt, die Betrachter sofort an den Maler denken lässt. Gut passt die Lichtskulptur in Gelmeroda zu dem Künstler, denn auch bei Feininger zerschneiden Lichtschneisen die entstehenden Bilder dieser Zeit horizontal, vertikal oder schräg.

Der 1871 in New York geborene Lyonel Feininger liebte die Idylle und transformierte sie in eine abstrakte Formensprache. Ob Dorfkirchen oder die Ostsee, vieles inspirierte seine Gemälde und zählt ein Jahrhundert später zum Kanon der modernen Kunst. Neben thüringischen Dörfern hatte es ihn auch die Ostseeküste angetan. Ob Usedom oder die heute zu Polen gehörende Rega-Mündung bei Treptow in Westpommern. Während seiner Ostseeaufenthalte entdeckte Feininger auch das Hinterland, wo die Rega das Städtchen Treptow in Westpommern von drei Seiten umrahmt. Auch dort ist es mit dem mittelalterlichen Grützturm und der Stadtmauer etwas Jahrhunderte altes, was ihn begeistert und was er trotz präsenter Baulichkeit in Farbe aufzulösen schein. Primärfarben wie bei einigen Zeitgenossen sucht man vergeblich. Bei Feininger gehen die Farben meist sehr ineinander über. In Treptow wie in Gelmeroda vermengt sich das mittelalterliche Braun mit den verschiedenen Grau- und Blautönen. Hier von Himmel und Fluss, dort vom Himmel. Mit seinen prismenhaften Flächen macht Feininger das Ineinandergreifen der verschiedenen Wahrnehmungsebenen sichtbar. An der Rega war Feininger im Sommer 1929, als er noch Lehrer am nach Dessau umgezogenen Bauhaus war. Jeden Sommer verbrachte er mit der Familie die Zeit in Treptower Deep am Meer. Einmal schreibt er seiner Frau Julia: „Könnte ich dir nur etwas von dem Frieden, der Glückhaftigkeit, vermitteln, die hier im kleinen Deep jetzt segnend um mich herum ist.“ Für ihn ist die Ostsee damals eine kleine Flucht. Seine Frau ist Tochter konvertierter Juden und 1937 verlassen die Feiningers nach Schließung des Bauhauses und Repressalien durch die NSDAP dank ihrer US-Staatsbürgerschaft Deutschland in Richtung USA.

In der Frankfurter Schirn sind aber neben diese bekannteren kubistisch geprägten Werken auch viele andere Werke dieses Vertreters der klassischen Moderne zu sehen. So viele wie noch nie zuvor. Die Retrospektive ist in Europa die erste große Feininger-Schau in diesem Jahrtausend. Dem deutsch-amerikanischen Künstler widmet die Schirn Kunsthalle diese große Retrospektive und zeichnet ein umfassendes und überraschendes Gesamtbild seines Schaffens. Leider übersah die Rezeption des Künstlers oft die Originalität und den künstlerischen Facettenreichtum seines Werkes, das zahlreiche Tendenzen der Moderne widerspiegelt.

Mehrere scheinbar gegenläufige Interessen ziehen sich mit großer Kontinuität durch sein Œuvre und sind Teil seiner Handschrift. So kann man selten gezeigte Hauptwerke wie Die Radfahrer von 1912, das für das Plakat verwendete Selbstbildnis von 1915 und gleich mehrere Versionen von Gelmeroda, die er erst in Weimar und später auch nach Skizzen in New York geschaffen hat. Auch Arbeiten des Spätwerks aus den USA sind vertreten und etliche weniger bekannte Arbeiten, wie die erst vor einigen Jahren wiederentdeckten Fotografien des Künstlers. denn beim Thema Fotografie fallen den meisten die schwarz-weißen New York-Bilder seines Sohnes Andreas ein. Auch das Frühwerk ist weitgehend unbekannt, denn schon früh entwickelte Feininger als Grafiker und Karikaturist einen sehr eigenen Stil. Neben zentralen Werken aus der frühen figurativen Phase mit politischen Karikaturen, humorvoll- grotesken Stadtansichten und karnevalesken Figuren beleuchtet die Ausstellung auch seine Rolle als Bauhaus-Lehrer und Meister grafischer Techniken wie Zeichnung und Holzschnitt.

Ein besonderer Fokus liegt mit zentralen Arbeiten auf dem US-amerikanischen Exil des Künstlers. Mit rund 160 Gemälden, Zeichnungen, Karikaturen, Aquarellen, Holzschnitten, Fotografien und Objekten zeigt die Ausstellung wichtige Themen und Entwicklungslinien auf, die Feiningers Werk geprägt und unverwechselbar gemacht haben. Für die Präsentation konnte die Schirn bedeutende Leihgaben aus zahlreichen deutschen und internationalen Museen, öffentlichen wie privaten Sammlungen gewinnen und in Frankfurt zusammenführen. Neben dem Bauhaus-Archiv Berlin, dem Harvard Art Museums mit dem der deutschen Kunst gewidmeten Busch-Reisinger Museum, dem Museum Lyonel Feininger in Quedlinburg, das als einziges Museum ausschließlich seiner Kunst gewidmet ist haben auch das Kunstmuseum Basel, The Metropolitan Museum of Art New York und zahlreiche andere namhafte Museen dies Ausstellung möglich gemacht.

Kuratiert hat die Ausstellung Ingrid Pfeiffer: „Lyonel Feiningers herausragendes Gesamtwerk repräsentiert geradezu exemplarisch zahlreiche Strömungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts; trotzdem ist es äußerst individuell. Seine künstlerische Entwicklung vollzieht sich nicht linear, sie weist zahlreiche Sprünge und Rückgriffe auf, gleichzeitig werden Feiningers große Themen über alle Medien hinweg und bis ins Spätwerk sichtbar. Sein unabhängiges Denken ist frei von Hierarchien, auch Gegenteiliges und Andersartiges wird zugelassen. Auf den ersten Blick oft ernst, konstruiert und monumental, ist es zugleich ein Werk voller Überraschungen, tiefgründiger Melancholie und spielerischer Leichtigkeit.“

Begleitend zur Ausstellung entstand wieder ein Digitorial®, das mit wissenswerten Hintergründen, kunst- und kulturhistorischen Kontexten und wesentlichen Ausstellungsinhalten Einblicke in die künstlerische Welt von Lyonel Feininger gibt. Das kostenfreie digitale Vermittlungsangebot ist in deutscher sowie englischer Sprache abrufbar unter feininger.schirn.de. und bietet die Möglichkeit der Vorbereitung oder Nacharbeit. Wer nicht den sehr umfangreichen und lesenswerten Katalog für knapp 50 Euro mitnehmen möchte, st mit dem Begleitheft gut ausgehoben, das für 7,50 Euro eine gute Einführung in die Ausstellung bietet und die kulturhistorischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge dargelegt. Die Ausstellung läuft bis zum 18. Februar 2024, der Eintritt kostet über die Woche 12 und am Wochenende 14 Euro. Geöffnet ist die Ausstellung von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 19 Uhr, Mittwoch und Donnerstag bis 22 Uhr.

Lyonel Feininger, Gelmeroda II, 1913

Neue Galerie, New York. This work is part of the collection of Estée Lauder and was made available through the generosity of Estée Lauder, © bpk / Neue Galerie New York / Art Resource, NY / VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Foto von Hulya Kolabas

(c) Magazin Frankfurt, 2024