Auch bei uns in Deutschland ist es jederzeit möglich, dass man verurteilt und ins Gefängnis gesteckt wird, obwohl man unschuldig ist. Zwar ist die Unschuldsvermutung eines der Grundprinzipien jedes rechtsstaatlichen Strafverfahrens und besagt, dass jemand, dem man eine Straftat vorwirft, solange als unschuldig gilt, bis seine Schuld rechtskräftig nachgewiesen ist. Das unterscheidet sie von der Schuldvermutung. Das Erbe der europäischen Rechtsphilosophie gilt seit der Aufklärung als ein fester Bestandteil des modernen Rechtsstaats und wird in den meisten Ländern Europas anerkannt, auch Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hat dies niedergeschrieben. Weltweit steht die Unschuldsvermutung im Artikel 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.
Auch im Rechtssystem der Vereinigten Staaten sollte es eigentlich präsent sein, hat aber dort nicht dieselbe Qualität wie in Europa, da die US-Verfassung sie nicht ausdrücklich erwähnt. Man kann sie nur durch den fünften, sechsten und vierzehnten Zusatzartikel zur Verfassung herauslesen, da man im ersteren fordert, dass „der Angeklagte“ das Recht auf ein faires und schnelles Verfahren vor einer lokalen und unparteiischen Jury und auf einen Rechtsbeistand hat und der 14. Zusatzartikel strafrechtliche Sanktionen ohne ordnungsgemäßes und faires Verfahren verbietet. Doch in den USA ermitteln Staatsanwälte ausschließlich für die Anklage und Verteidiger für die Verteidigung. Das Gericht entscheidet dann zugunsten der schlüssigsten These. Die muss nicht immer zutreffend sein und wenn man einen Pflichtverteidiger oder einen lustlosen Verteidiger hat, kann man leicht für einige Jahrzehnte hinter Gittern verschwinden oder im schlimmsten Fall auf dem elektrischen Stuhl landen.
Im vergangenen Jahr schaffte es einer dieser Fälle auch in die deutschen Medien. 1975 wurde Glynn Simmons wegen eines Raubüberfalls mit Todesfolge verurteilt, da ihn eine 18-jährige Zeugin zu Unrecht belastete - obwohl sie sich bei ihrer Aussage in Widersprüche verstrickte. Die Staatsanwaltschaft, die Geschworenen und der Richter machten es sich leicht und verurteilten ihn zum Tode. Erst 48 Jahre später erkannte man auf die Unschuld des inzwischen 71-Jährigen Schwarzen, der zum Tatzeitpunkt überhaupt nicht im betreffenden US-Staat war und hob das alte Urteil auf. Zumindest ins Buch der Rekorde hat es Simmons damit geschafft, denn er ist der Häftling, der in der US-Geschichte am längsten unschuldig hinter Gittern saß, bevor er freigesprochen wurde. Zumindest das Todesurteil war schon früher in lebenslange Haft umgewandelt worden. "Wenn man weiß, dass man unschuldig ist, muss man dranbleiben und darf nie aufgeben", sagt Simmons, der 160.000 Euro Entschädigung bekam, aber die Rückkehr in die Gesellschaft für schwierig erachtet. |
Der US-Autor John Grisham, der berühmt ist für seine Justizthriller gilt als leidenschaftlicher Kämpfer für Gerechtigkeit. Schon in seinem Weltbestseller »Der Gefangene« hat Grisham die Problematik aufgegriffen und erzählt darin die Geschichte des psychisch kranken Ronald Keith Williamson, der als Opfer eines Justizirrtums elf Jahre lang im Todestrakt auf seine Hinrichtung warten musste und gegen Staatsanwaltschaft und Polizei, die mit gefälschten Beweisen und zweifelhaften Zeugen arbeiteten, zunächst nur wenig Chancen auf Rechtsprechung im eigentlichen Sinne hatte. Jetzt hat John Grisham nachgelegt und in "Unschuldig" zusammen mit Jim McCloskey, dem Gründer von der NGO Centurion (früher Centurion Ministries), die sich unschuldig Verurteilter mit langer Haft oder Todesstrafe annimmt, zehn wahre Fälle skandalöser Verurteilungen in einem Buch verdichtet.
Jim McCloskey, der sich seit Jahren für die Entlastung unschuldig Verurteilter einsetzt, erzählen darin wahrhaft erschütternde Geschichten von fehlerhaften Gerichtsurteilen, bei denen Unschuldige, die in die Klauen der Justiz geraten sind sich plötzlich in der Todeszelle wiederfanden. Die Autoren erzählen von dramatischen, hart geführten Kämpfen um Gerechtigkeit. Sie beleuchten, wie es überhaupt zu Fehlurteilen kommt, sei es motiviert durch Rassismus, durch fehlerhafte Zeugenaussagen oder Korruption, und sie machen klar, dass diese Faktoren es fast unmöglich machen, Urteile zu hinterfragen. Zwar sollte auch im US-Rechtssystems die Unschuldsvermutung gelten, doch wer einmal für schuldig befunden wurde, hat kaum Chancen, dass sein Fall noch einmal Gehör findet. Menschen, die fälschlicherweise verurteilt wurden, müssen darum Jahrzehnte ihres Lebens in Haft verbringen und auf ihr Recht auf Freiheit pochen, während die Schuldigen ungestraft blieben.
»Wenn Bestsellerromane eine politische Wirkung besäßen, dann hätten die Bücher des Schriftstellers John Grisham vermutlich längst für eine radikale Neuordnung des US-amerikanischen Justizsystems gesorgt.« sagt Wolfgang Höbel von Spiegel Online. Ob sich das US-Rechtssystem aber in Zukunft in die richtige Richtung entwickelt, wo ein verurteilter Straftäter zum neuen US-Präsidenten gewählt wurde und sich anschickt, das Rechtssystem nach seinen Vorstellungen zu "reformieren", bleibt abzuwarten.
John Grisham/Jim McCloskey, Unschuldig, Heyne, Hardcover, 464 Seiten, ISBN 978-3-453-27514-0, 24 Euro |