Zu Beginn der Saisoneröffnung am 12. September kam Intendant Bernd Loebe vor den Vorhang. Die Vorführung, sagte er, sei die erste seit März 2020, die wieder vor vollem Haus stattfinden dürfe. Doch leider kam diese Freigabe vom Donnerstagabend zu kurzfristig, um die ansonsten wie ein Schachbrettmuster ausgedünnte Belegung noch mit vielen Menschen zu füllen, da nicht alle Interessenten erreicht oder für die Vorstellung kurzfristig gewonnen werden konnten. So waren bei der Vorstellung mit vielleicht 650 Besuchern gerade einmal zur Hälfte der Plätze besetzt. Schade! Von „Normalität“ konnte trotz der Freigabe der Plätze keine Rede sein. Alle Besucher mussten vom Betreten des Theaters bis zu dessen Verlassen eine Maske tragen und beim Eingang Impfung, Genesung oder aktuelle Testung (3G) beim Eingang vorweisen. Als Termin hatte man den Sonntagnachmittag um 15.30 Uhr gewählt. Für „Norma“ ist es die zweite Wiederaufnahme. Loebe erzählt kurz von einer Reise zu seinen Kollegen nach Dänemark, wo inzwischen dank der hohen Impfquote alle Einschränkungen aufgehoben wurden und er ohne Maske im wirklich vollen Kopenhagener Opernhaus einen Opernabend genießen konnte. In seinem eigenen Haus seien sich leider nicht alle der Verantwortung für die Allgemeinheit bewusst, bedauert er Impfmuffel in seinem Team, die er aber nicht zwingen könne, da jeder selbst abwägen müsse, was auf dem Spiel stehe. Für Loebe ist die momentane Öffnung ein Hoffnungsschimmer, dass in absehbarer Zukunft auch bei uns die gewohnten Freiheiten zurückkommen. Sollte es aber zu weiteren Einschränkungen kommen, sieht Loebe ganz realistisch, werde ihm die Stadt bald "den Geldhahn zudrehen". Es war und ist also ein dringender Appell an alle Opernfreunde in und um Frankfurt: Kommt wieder in die Oper! Das Publikum hat ihn vernommen und unterstützt die Bitte des Intendanten mit langem Beifall.
Für viele Opernfreunde ist Bellinis Oper Norma eng mit der Sängerin Maria Callas verbunden, denn die Titelpartie gilt als eine der schwierigsten und anspruchsvollsten Rollen für eine hohe Frauenstimme und fordert zudem eine Darstellerin mit großen expressiven Fähigkeiten. Schon nach wenigen Minuten kommt die berühmte Cavatine „Casta diva“, DAS Highlight der tragischen Oper von Vincenzo Bellini. Die Oper spielt im von Rom besetzten Gallien im ersten Jahrhundert vor Christus. Man ist der Fremdherrschaft leid und viele Gallier würden die dominanten Besatzer lieber heute als morgen loswerden. Die Hoffnung auf ein Zeichen zum Kampf, ruht dabei auf der Druiden-Hohepriesterin Norma, doch diese hat sich schon Jahre zuvor in den Vertreter der Besatzungsmacht, den römischen Prokonsul Pollione verliebt und ihr Keuschheitsgelübde gebrochen. Die Beziehung zu ihm ist ein Geheimnis, da die streng verbotene Liebesbeziehung sonst ihren Tod bedeuten würde. Die beiden Kinder des heimlichen Paars werden von der Vertrauten Clotilde versteckt gehalten.
Bellinis Musik ist in seiner achten Oper bereits völlig ausgereift und wurde bei der Uraufführung von den Zeitgenossen auch als neuartig und innovativ empfunden. Sie sollte unmittelbar das Wort verdeutlichen und Text und Musik zur Einheit werden lassen. Im Vergleich zu Bellinis Vorgänger Rossini spielen Koloraturen eine geringe Rolle. Doch ohne diese beliebten Verzierungen wollte der Komponist seine virtuose Titelrolle nicht an den Start gehen lassen, die er einst für die Primadonna Giuditta Pasta konzipiert hatte, die mit Bravour sowohl die berühmte Cavatina „Casta diva“ mit chromatisch hinabgleitenden Rouladen sowie die dazugehörigen Cabaletta „Ah! bello a me ritorna“ sang und verkörperte und gleich zu Beginn für viel Applaus sorgte. Auch die Gefühlsausbrüche Normas, mit denen Bellini nicht gespart hatte, wie ihr Wutausbruch in „O, non tremare, o perfido“ im Terzett mit Adalgisa und Pollione, als sie plötzlich damit konfrontiert wird, dass der Mann, der das Herz der Novizin in ihrem Tempel erobert hatte, niemand anders war als ihr heimlicher Partner Pollione oder ihr Flehen dem Vater gegenüber in „Ah padre! un prego ancor“ kurz vor dem zweiten Finale. Auch die Stretta im Duett von Norma und Adalgisa spiegelt die zu diesem Zeitpunkt noch vorhandene Freude der beiden Frauen auch musikalisch überzeugend wider, wenn kurze staccato-Noten ausgestoßen werden.
Im Sommer 1831 hatte Bellini das Sujet der für die kommende Karnevalssaison an der Mailänder Scala bestellten neuen Oper gefunden. Die gleichnamige Tragödie stammt von Alexandre Soumet, aber Bellini nahm auch Anregungen aus einigen früheren Opern auf. Die für die Premiere vorgesehene Primadonna hatte schon Bellinis La sonnambula übernommen und kannte Soumets Tragödie aus Paris. Zusammen mit Felice Romani als Librettist waren sie ein eingespieltes Team, das eng zusammenarbeitete, so dass die die neue Oper schnell fortschreiten konnte. Bellini wollte und bekam eine stringente Handlung und Romani strich konsequent alles Überflüssige, so dass auch Soumets Finale einer wahnsinnigen Titelheldin auf der Strecke blieb. Schon Ende November war die Oper fast fertig und im Dezember begannen die Proben, doch hatte Bellini nach wie vor Korrekturen und Änderungen vorgenommen. Allein die berühmte Auftrittsarie „Casta Diva“ soll er acht Mal umgearbeitet haben, weil die Giuditta Pasta nie damit zufrieden war. |
Am Zweiten Weihnachtsfeiertag 1831 war die Uraufführung mit Giulia Grisi als Adalgisa, Domenico Donzelli als Pollione und Vincenzo Negrini als Oroveso. Zwar kam die Pastas Auftrittsarie gut an, doch insgesamt wurde sie vom Publikum kühler aufgenommen als erhofft. Bellini und die Sänger sollen am Ende vier Mal vor den Vorhang gerufen worden sein - nicht ganz schlecht.
In Frankfurt hat man Bellinis Norma nicht als reines Diven-Stück betrachtet - was es lange Zeit war - sondern hat den musiktheatralischen Rang des Werkes mehr Gewicht eingeräumt. Dabei geht es um drängende Fragen: Wie umgehen mit den Widersprüchen zwischen öffentlichen Funktionen und privatem Glück? Wie sehr bestimmt die Verantwortung für die eigenen Kinder das Leben? Welche Rolle spielt Religion in einer Gesellschaft? Was kann die Freundschaft zweier Frauen, die denselben Mann lieben, bewirken? Alle diese Themen spiegeln sich in der von Christof Loy aushilfsweise inszenierten Geschichte um Norma. Als Pollione ihre Liebe verrät, geht sie durch ein Wechselbad der Gefühle, das im heroischen Selbstopfer als Ausdruck der Erkenntnis ihrer eigenen Schuld gipfelt. Bellinis Tonsprache stellt gekonnt den Gesang ins Zentrum. Auch Belcanto (wörtlich »Schöngesang«) in vollkommenster Form ist dabei keineswegs nur »schön«, vielmehr in seiner Wahrhaftigkeit berührend. Dabei denkt man bei Loy weniger an ein Geschichtsdrama, denn er inszeniert die Oper eher auf das Wesentliche reduziert als an den französischen Widerstand gegen die Nazis im Weltkrieg erinnernde Charakterstudie der vom geliebten Feind gedemütigten Chefin einer Widerstandsgruppe.
Was in Frankfurt lange Zeit unmöglich schien, als man mehr oder weniger unter strenger Einhaltung der Corona-Regeln spielte, war der Auftritt des Opernchors. Es war großartig, ihn wieder auf der Bühne agieren zu sehen, statt ihn aus Ansteckungsgefahr weggesperrt nur zu hören. So wurde die Oper, bei der man sich während der letzten 18 Monate vieles denken musste, endlich wieder für alle Sinne erlebbar. Norma ist eine Oper, die neben den Protagonisten vom Chor lebt und der nicht enden wollende Applaus am Schluss macht deutlich, wie sehr die Opernfreunde dies in der Corona-Hochzeit vermisst haben. Die Pause - endlich gab es sie wieder - lief für viele Besucher vor dem Hause ab, wo sie mit einem Bändchen versehen endlich wieder die Maske lüften, sich unterhalten und mit Getränken der nach außen verlagerten Bar etwas trinken durften. Aber auch im Foyer im ersten Stock sitzen erstmals wieder Besucher und genießen Schnittchen und Sekt.
Am Pult stand ein alter Bekannter: Erik Nielsen. Vor fast 20 Jahren startete er an der Oper Frankfurt als Solorepetitor, wurde später Kapellmeister. Seit 2015 ist der Amerikaner Chef des Symphonieorchesters Bilbao und zudem von 2016 bis 2018 Musikdirektor am Theater Basel. Auch sonst ist Nielsen sehr gefragt: Gastdirigate führten ihn an die Semperoper Dresden, die Deutsche Oper Berlin, das Opernhaus Zürich, das Teatro dell’Opera di Roma und die Bayerische Staatsoper München. In der Titelrolle spielte als Ensemblemitglied überzeugend die kanadische Sopranistin Ambur Braid, die schon als Salome, Ariadne und Poulencs Madame Lidoine die Zuschauer beeindruckte. Wie schon bei der Premiere stand der italienische Tenor Stefano La Colla als Pollione auf der Frankfurter Bühne, ebenso die großartige deutsche Mezzosopranistin Dshamilja Kaiser, die an der Oper Graz unter Vertrag steht. Das zufriedene Publikum erlebte einen rundum gelungenen Nachmittag.
Vincenzo Bellini, Norma, Oper Frankfurt, weitere Aufführungen 18., 22., 25. September, 3. Oktober und 16., 20. und 26. Dezember 2021, ca, 3 Stunden mit Pause, Tickets ab 15 bis 116 Euro, |