Strauss und die Seinen - Der Patriarch

Richard Strauss ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts. Er schrieb mehr als 250 Werke, war ein begnadeter Dirigent, weltoffener Bürger und überzeugter Kulturpolitiker. Doch er war auch strenges Familienoberhaupt; ein Patriarch, der nur wenig Widerspruch duldete und all seine Schritte, Kompositionen, seine Häuser, ja sogar die Zeit nach seinem Tod minutiös plante. Richard Stauss-Schwiegerenkelin Gabriele Strauss-Hotter und Filmemacherin Barbara Wunderlich begaben sich dafür im Strauss’schen Familienarchiv auf monatelange Spurensuche, lasen tausende Briefe und Tagebucheinträge und sichteten unzählige Fotos. Als Töchter großer und leidenschaftlicher Strauss-Interpreten – des Bassbaritons Hans Hotter und des Tenors Fritz Wunderlich – war ein Projekt über Richard Strauss für sie fast selbstverständlich.

Jetzt entstand unter ihrer Herausgeberschaft ein sehr lesenswertes 128 Seiten starkes Kleinod, das als Abschluss des Jubiläumsjahrs 2014 im wahrsten Sinne des Wortes ein neues Bild von Deutschlands letztem musikalischen Universalgenie zeichnet. Über 200 exklusive Fotos zeigen Strauss in privaten und zum Teil unbeobachteten Momenten – im Badeanzug auf Sylt, als Ziellinienrichter bei einem Rodelrennen (mit einer Fahne statt des Taktstocks in der rechten Hand), beim Skatspiel mit dem Chauffeur oder hoch zu Ross in Bozen.

Natürlich kommt Strauss in dem Buch auch selbst zu Wort: Ob Tagebuchauszug, Brief oder Partitur – die Meinung des Maestro fehlt in keinem der 13 Kapitel. Die Gespräche zwischen Gabriele Strauss-Hotter und ihrem Schwager, dem Strauss-Enkel Christian, lassen die Leser an Anekdoten, Umbrüchen und Schicksalstagen im Leben des „Großpapas“ teilhaben.

Besonders wertvoll wird das Buch durch den als DVD beiliegenden Dokumentarfilm "Richard Strauss - Skizze eines Lebens", diese faszinierende Erstausgabe komplettiert. Darin nimmt Regisseurin Marieke Schroeder den Zuschauer mit in die Strauss-Villa in Garmisch. In dem bis ins letzte Detail von Richard Strauss erdachten Haus herrscht der Geist des Komponisten fast noch wie zu dessen Lebzeiten. Die eindrucksvollen und berührenden Interviews mit Gabriele Strauss-Hotter, Christian Strauss, Inge Borkh und Brigitte Fassbaender lassen den Patriarchen wieder lebendig werden und geben Einblicke in dessen schöpferisches Universum. Er war nicht nur ein passionierter Tagebuch- und Briefeschreiber, sondern auch ein leidenschaftlicher Planer, der mit Akribie jedes Projekt – ganz gleich ob ein komplexes Opernwerk, der Hausbau, das Skatspiel oder die Aufgabenverteilung in seiner Familie – vorzubereiten pflegte.

Entsprechend groß war der Berg an Dokumenten, den seine Schwiegertochter Alice bezwingen musste, als sie 1951 mit dem Aufbau des Familienarchivs begann. Unzählige Dinge galt es zu ordnen: Kalendereinträge, Skizzenbücher, Notizen, Tagebücher, Fotos, Dokumente, eine Flut an Noten und über 10.000 Briefe, die sie sicherte, sortierte und erfasste. 1991 übernahm Gabriele Strauss-Hotter, die Frau seines Enkels Richard, das Strauss’sche Archiv und wertet es seitdem kontinuierlich und mit großem Engagement aus. "Meine Familie ist mir mindestens so interessant und wichtig, wie das Leben Alexanders des Großen“, antwortete Richard Strauss stets auf Kritiken, die sich an seinen autobiografischen Werken störten, und so ist diese Kombination aus Buch und Film nicht zuletzt eine Hommage an einen Patriarchen, dessen Familie integraler Bestandteil seiner schöpferischen Arbeit war. Nicht nur für Strauss-Fans ein wundervolles Weihnachtsgeschenk im Jubiläumsjahr, dass die Herzen der Liebhaber und Neuentdecker höher schlagen lässt.

(c) Magazin Frankfurt, 2024