Mitte der 1980er Jahre hatte ich die Möglichkeit für meinen damaligen Arbeitgeber bei einigen Ausstellungen und einem Buchprojekt mit dem Designer Otl Aicher zusammenzuarbeiten. Erstmals war ich in der Schulzeit durch die Auseinandersetzung mit dem 1952 erschienenen Buch seiner Frau Inge Aicher-Scholl auf ihn aufmerksam geworden. Das Buch „Die weiße Rose“ handelte von ihren Geschwistern Hans und Sophie, die Anfang der 1940er Jahre in der gleichnamigen Widerstandsgruppe tätig waren und von Freislers Volksgerichtshof nach einer Flugblattaktion wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Der wie die Scholls ebenfalls aus Ulm stammende Otl Aicher war eng mit den Geschwistern befreundet und teilte ihre Werte, durfte aber nicht studieren, da man dem gläubigen Katholiken das Abitur wegen seiner Weigerung der Hitlerjugend beizutreten verweigerte. Auch den Eintritt in die Wehrmacht konnte er sich einige Zeit durch eine sich selbst zugefügte Verletzung entziehen, bevor er desertierte und sich zusammen mit den Scholls in einem Bauernhof versteckt hielt. Später wurde ich im Studium wiederholt auf Aicher als Gestalter aufmerksam. Mit dem Erscheinungsbild der Lufthansa und der Olympischen Sommerspiele 1972 wurde er zu einem Wegbereiter des Corporate Designs in Deutschland.
Anfangs geschah dies noch an der von ihm und seiner Frau zusammen mit Max Bill gegründeten Ulmer Hochschule für Gestaltung, deren Trägerin Inge Aicher-Scholls „Geschwister Scholl-Stiftung“ wurde. Schon 15 Jahre später wurde 1968 der durch Managementfehler und diverse Querelen in die Krise geführten HfG durch die CDU-Regierung der Geldhahn zugedreht. Nach dem Bauhaus, das nach der Machtübernahme aufgelöst wurde, war die HfG Ulm Deutschlands bedeutendste Design-Hochschule. Ihre Dozentenliste liest sich wie das Who is Who des Designs. Damals regierte in Baden-Württemberg der noch nicht als Ex-NSDAP-Marinerichter enttarnte Hans Filbinger als Ministerpräsident. Filbinger war die HfG wohl auch wegen ihrer Verbindung zu den Geschwistern Scholl suspekt, wie es sein Nachfolger Lothar Späth kommentierte.
Nach dem Ende der Hochschule und dem Auftrag für die Olympischen Spiele in München, für die er ein bis heute auch international weit verbreitetes System von Piktogrammen als Wegweiser entwickelte, erwarb er im Leutkircher Ortsteil Rotis einen Bauernhof mit einer auf dem Grenzbach zu Bayern liegender Mühle und baute auf dem großen Grundstück für seine Bürogemeinschaft einige Atelierhäuser. In dem dort später von ihm gegründeten Institut für analoge Studien entwickelte er die nach dem Ortsteil benannte Schriftfamilie, die schon bald von einigen seiner Kunden, wie der Lufthansa genutzt wurde. Der Architekt Norman Foster nannte sein Atelier den „Tempel“ und in der großen Halle wurde gemeinsam mit seinen Mitarbeitern viele Projekte zum Leben erweckt. Dem 1922 geborenen Aicher blieb leider nicht viel Zeit den Ruhm zu genießen. Im Spätsommer 1991 kam es bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben.
Schon seit 1972 arbeitete Aicher mit dem Essener Fotografen Timm Rautert zusammen. Er hatte dessen Arbeiten in verschiedenen Magazinen gesehen und da seine Arbeitsweise seinen Vorstellungen entsprach, band er ihn bei einigen Projekten seiner Kunden ein. |
Auch Rautert kann ein Liedchen von dem nicht immer einfachen Gestalter singen, der mit einer beeindruckenden Konstanz an seinen einmal gefassten Vorstellungen festhielt. Aicher konnte einen gewissen Hochmut nicht verbergen, wenn es darum ging, seine Ideen durch- und umzusetzen. Ich kam mit ihm und Rauter im Rahmen einer Ausstellung über die Berliner Philharmoniker zusammen, die die Deutsche Lufthansa zur 750-Jahr-Feier Berlins der Stadt zusammen mit einem Buch schenken wollte und wir versuchen mussten, unterschiedliche Vorstellungen von der technischen Gestaltung unter einen Hut zu bringen. Rautert hatte dafür die Berliner Philharmoniker auf einer Welttournee begleitet, nachdem ihm deren sehr schwieriger Chefdirigent Herbert von Karajan dies zumindest nicht verweigerte. Mit Rauterts Bildern setzte Aicher den großen Bildband in Szene und marginalisierte dabei Rauterts Bilder in dem 4-spaltigen Layout auf Dia-Größe. Zwar fanden so über 600 Aufnahmen Rauters Platz im Buch, aber wenn der Fotograf in seinen Erinnerungen im Band schreibt „eine einmal getroffene Entscheidung hat Aicher nie umgestoßen“, spürt man noch seine Versuche, den großen Gestalter, der in der Schrift selbst Minuskeln verwendete, von größerem Format zu überzeugen. Zumindest bei der Ausstellung über das deutsche Ausnahmeorchester fielen die Bilder nicht ganz so klein aus.
Auch für die Arbeit an seiner Schriftenfamilie Rotis, der ein internationaler Erfolg beschieden war, holte Otl Aicher Rautert ins Boot. Seine in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entstanden Bilder zeigen den Designer und sein Umfeld an seinem Wohnort. Für eine Einordnung der Schriftenfamilie Rotis vertieft der Schriftgestalter und Publizist Dan Reynolds die Kenntnisse über Entstehung und Wirkung von Rotis Grotesk, Rotis Semigrotesk, Rotis Semiantiqua und der Rotis Antiqua, mit ihren insgesamt siebzehn Schriftschnitten. Oliver Klimpel, ehemals Professor für Systemdesign, blickt zurück aus dem globalisierten Heute auf Otl Aichers Rotis, einem Ort aus einer anderen ökonomischen und politischen Zeit: abgelegen und doch privilegiert, im tiefsten Westdeutschland, in dem die Leute zusammen arbeiteten und in der gegenüber dem Wohnhaus gelegenen Rotisserie aßen. Timm Rautert kommt dort nicht nur durch seine Bilder zu Wort, sondern erinnert sich erstmals in einem Beitrag an sein persönliches Verhältnis zu Otl Aicher, die Besonderheit ihrer Zusammenarbeit und die Entwicklung gemeinsamer Projekte, wie das bereits erwähnte Buch über das Berliner Philharmonische Orchester.
Im kommenden Jahr jährt sich Aichers Geburtstag zum hundertsten Mal. Der eindrückliche Band ist eine wunderbare Hommage an diesen außergewöhnlichen und in seinen festen Vorstellungen oft streitbaren Menschen. Alle Bilder stammen aus Rauterts Archiv und wurden bei verschiedenen Besuchen in Otl Aichers Lebens- und Arbeitsumfeld Rotis aufgenommen, das er zwischen 1972 und Aichers Unfalltod 1991 immer wieder besuchte. Herausgegeben wurde der Band von zwei erklärten Fotoexperten: dem Göttinger Verleger Gerhard Steidl und Timm Rauterts Lebensgefährtin, der Fotografin, Kuratorin und Fotohistorikerin Ute Eskildsen, die nach gemeinsamem Studium mit Rautert an der Essener Folkwang Schule im dortigen Folkwang-Museum die Fotografische Sammlung aufbaute und später das namhafte Museum als stellvertretende Direktorin leitete.
Timm Rautert (Fotos), otl aicher / rotis, Steidl Verlag, Hardcover, 160 Seiten, ISBN 978-3958298750, 35 Euro |