Lee, Geh hin, stelle einen Wächter
Selten wurde ein neues Buch derart aufmerksam im Vorfeld der Veröffentlichung verfolgt, sehen wir mal von dem früheren Hype um Harry Potter und später Shades of Grey ab. Doch auch da waren Schlagzeilen auf dem Titel der "New York Times" ungewöhnlich, ein Bericht im weltumspannenden CNN oder ein Teaser im "Wallstreet-Journal". Auch bei der Erstauflage sind Verlage meist vorsichtig und drucken lieber schnell nach, wenn ein Run auf die ausgelieferten Bücher einsetzt. Zwei Millionen Exemplare ist da die absolute Ausnahme - zumal die Autorin ihr letztes Buch vor 55 Jahren veröffentlichte. Das zweite Buch der heute 89-jährigen Harper Lee, die heute zurückgezogen in ihrem Heimatort Monroeville/Alabama lebt, ist eigentlich auch gar kein Nachfolgeband, sondern ein bisher nicht veröffentlichter Vorläufer ihres Romans "Wer die Nachtigall stört". Schnell entwickelte sich der 1960 erschienene Band zu einem Lieblingsbuch der Amerikaner für das man Harper Lee mit dem begehrten Pulitzer-Preis ehrte. |
In diesem Buch ging es um das Mädchens Scout und ihren Vaters Atticus Finch, der gegen den damals alltäglichen Rassismus kämpft. Die Botschaft des Buchs war es, sich in die Haut der anderen hineinzuversetzen, um sie wirklich zu verstehen. Das Manuskript zu "Go Set a Watchman" stammt aus den 50er Jahren und wurde damals vom Verleger abgelehnt. Harper Lee wählte aber erneut die Figuren des Buchs als Grundlage ihres Erfolgsromans. Vor kurzem tauchte das verschollen geglaubte Manuskript in Lees Archiv wieder auf und kam vor einigen Tagen in den USA auf den Markt. |
Die einstige Lichtgestalt, den für Rassengleichheit kämpfenden Atticus Finch finden wir darin allerdings förmlich demontiert. Viele Fans von "Wer die Nachtigall stört" fragen sich, warum der Held ihrer Jugend in dem 20 Jahre später spielenden Buch zum Rassisten geworden ist. Truman Capote, ein Kindheitsfreund Harper Lees, für den sie in der Entstehungszeit von "Wer die Nachtigall stört" die Recherchearbeit für dessen Buch "Kaltblütig" leistete, hatte einst angedeutet, dass Teile des Erfolgsromans aus seiner Feder stammen. Diese nie geklärten Vorwürfe könnten jetzt wieder zu Diskussion stehen. Abzuwarten bleibt auch, wie die Neuinterpretation des Titelhelden in dem Land aufgenommen werden wird, in dem die Rassenfrage wieder zur Diskussion steht, wenn man die manchmal unverhältnismäßige Polizeigewalt gegen Schwarze in einigen Teilen des Landes betrachtet. |
(c) Magazin Frankfurt, 2024