Individuation. Der aus dem Lateinischen stammende Begriff beschreibt den Werdegang eines Individuums, das sich im Laufe des Individuationsprozess vervollständigt. Man beschreibt damit die Entfaltung eigener Fähigkeiten, Anlagen und Möglichkeiten zu Anschauungen, Haltungen, Meinungen und Perspektiven von außen. Ziel der Individuation ist das schrittweise Bewusstwerdung, um sich dadurch als etwas Eigenes und Einmaliges zu erkennen und zu verwirklichen.
In der Psychologie ist der Begriff stark mit C.G. Jung verbunden, der die Individuation so beschreibe: „Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte ‚Individuation‘ darum auch als ‚Verselbstung‘ oder als ‚Selbstverwirklichung‘ übersetzen.“
Er betrachtete diesen Prozess als lebenslange, unvollendbare Annäherung an ein „fernes Ziel“, das Selbst. Er grenzt sich damit von Freud zugunsten Alfred Adlers ab. Der Weg des Menschen zur Individuation fordert stets, sich aktiv und bewusst Problemen zu stellen und Entscheidungen vor sich zu verantworten. Es bedeutet also nicht, sich danach zu richten, „was man sollte“ oder „was im Allgemeinen richtig wäre“, sondern selbst herauszufinden, was das Selbst „von mir oder durch mich“ bewirken will.
Jung sah es als unerlässlich an, sich zu individuieren, da sonst leicht ein Zwang entstehen kann, so zu handeln, wie man selber nicht ist und dadurch in einem entwürdigenden, unfreien und unethischen Zustand zu geraten. „Es muss allerdings anerkannt werden, dass man nichts schwerer erträgt als sich selbst.“
Nach ihrem Bestseller Resilienz hat sich jetzt die promovierte Biochemikerin und Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt, die nach Artikeln für Der Spiegel, dpa und Süddeutschen Rundfunk seit 2000 als Redakteurin für die Süddeutsche Zeitung arbeitet, des Themas angenommen. |
2006 wurde sie mit dem European Science Writers Junior Award ausgezeichnet. Für die Aufdeckung des Organspendeskandals erhielt sie den renommierten Wächterpreis der Tagespresse und wurde 2013 für den Henri-Nannen-Preis in der Kategorie »Investigation« nominiert.
Ihr neues Buch soll so etwas sein wie der Kompass zum Ich – auf der Basis bahnbrechender neuerer Forschungsergebnisse, die zeigen, dass das Ich keine feste Größe ist, sondern die Persönlichkeit sich auch über die Reifung hinaus durch klassische Wendepunkte im Leben wie der Elternschaft, der Midlife Crisis und dem Eintritt ins Rentenalter noch wandelt. Bernd verrät darin, welches mentale Werkzeug hilft, sich gegen negative Einflüsse zu schützen und die positiven besser zu nutzen.
Lebensentscheidungen wie die Berufs- und Partnerwahl haben großen Einfluss auf das Selbst, doch auch Mikroerfahrungen wie ständige Kritik hinterlassen ihre Spuren. Bei der Ich-Werdung spielen Faktoren wie die Darmflora, der Schlaf und Gedanken eine wesentliche Rolle: Mikroben wirken gegen Depressionen, guter Schlaf befördert die Zuversicht und was wir über uns denken, das stellen wir auch dar. Christina Berndt liefert spannende Einblicke in die neuere Forschung und präsentiert eine faszinierend gute Nachricht: Wir haben stets die Möglichkeit, uns neu zu erfinden.
Christina Berndt, Individuation – Wie wir werden, wer wir sein wollen – Der Weg zu einem erfüllten Ich, dtv, Taschenbuch, 272 Seiten, ISBN 978-3-423-26236-1, 16,90 Euro |