Rudolf Nureyjews Schwanensee
Berufe, in denen Frauen im Fokus stehen und mehr Geld verdienen als ihre männlichen Kollegen, sind leider noch immer rar gesät. Das Model-Business gehört dazu, und bis Rudolf Nurejew auftauchte, war auch der Tanz vom weiblichen Geschlecht dominiert - einen „Primo Ballerino“ gab es nicht. Der 1938 in einem Zug bei Irkutzk geborene Tänzer, der 1961 ein Gastspiel in Paris zum Anlass nahm, sich in den Westen abzusetzen, hat die Tanzwelt modernisiert, ja revolutioniert. Er importierte virtuose Technik und athletische Präsenz aus dem sowjetischen Ballett und befreite den männlichen Rollenpart von der Beschränkung auf den Pas-de-deux-Partner. Nurejew entwickelte die moderne Choreografie und gab seinen Rolleninterpretationen erstmals eine psychologische Note. Dabei war Nurejew ein Spätzünder, der erst mit 17 seine staatliche Ausbildung begann. Technische Schwächen kompensierte er mit Bühnenpräsenz, Ausstrahlung, Maskulinität und Musikalität. Gemeinsam mit der fest 20 Jahre älteren Margot Fonteyn bildete er das Traumpaar des Tanzes und wurde zur Ikone. Margot Fonteyn war es auch, mit der Nurejew die Premiere seiner legendären Choreografie von „Schwanensee“ in Wien tanzte, die nun in einer Neuproduktion vom NAXOS-Vertriebslabel C Major erscheint. Auch wenn Nurejew selbst nun schon seit mehr als 20 Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilt, ist der Geist dieser bedeutendsten Tänzerpersönlichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darin noch immer erlebbar.
Für seine Fassung von Tschaikowskys erstem und berühmtestem Ballett erweiterte er die Rolle des Prinzen Siegfried um einige Soli und machte ihn zur Hauptfigur. Dabei schwankt er zwischen weißem und schwarzem Schwan, zwischen dem reinen und dem sexuell anziehenden Wesen. Hinter dem scheinbar harmlosen Märchen verbirgt sich eine Fülle mythologischer Archetypen und Freud’scher Symbole, die bis heute für eine große Faszination gesorgt haben. Trotz Problemen im Vorfeld zur Wiener Erstaufführung dieser Version im Oktober 1964, war die Premiere ein triumphaler Erfolg mit legendären 89 Vorhängen für Nurejew und Fonteyn. Auch 50 Jahre danach ist die Produktion der Wiener Staatsoper ein wahrer Klassiker. Die vorliegende Wiederaufnahme in den erlesenen blauweiß silbernen Bühnenbildern von Luisa Spinatelli wurde erstmals 2014 aufgeführt. Olga Esina als Odette und Vladimir Shishov als Prinz glänzen durch atemberaubende Technik und psychologische Tiefe.
(c) Magazin Frankfurt, 2024