Niki de Saint Phalle und die Nanas

Niki de Saint Phalle, La Temperance

(c) Niki de Saint Phalle/Foto: Michael Ritter

Sebastian Baden Niiki de Saint Phalle King Kong

(c) Niki de Saint Phalle/Foto: Michael Ritter

Die vor gut 92 Jahren in einem Nobelvorort von Paris geborene und 2002 in Kalifornien verstobene Niki de Saint Phalle zählt zu den populärsten Künstlerinnen ihrer Generation. Mit ihren Nanas - bunten, großformatigen Figuren von Frauen – begründete sie ihren internationalen Erfolg. Nach wie vor sind sie ihr Markenzeichen und nur wenige Kunstfreunde wissen mehr über ihr künstlerisches Spektrum, das, wie man in der neuen Ausstellung in der Frankfurter Schirn entdecken kann, sehr viel facettenreicher ist und einige subversive und gesellschaftskritische Aspekte aufweist. In der Ausstellung kann man sehen, wie sie sich immer wieder brennender sozialer und politischer Themen annahm, und Institutionen, tradierte Rollenbilder hinterfragte und in ihrem Werk öffentliche Diskurse verhandelte, die auch heute noch relevant sind.

Der 2006 verstorbene schwedische Kunsthistoriker Pontus Hultén, der in den Jahrzehnten seines Schaffens zahlreiche Museen als Gründungsintendant begleitete und teilweise leitete, wie das Moderna Museet in Stockholm, das Centre Pompidou in Paris, die Bundes-Kunsthalle in Bonn, das Museum of Contemporary Art in Los Angeles, und den Palazzo Grassi in Venedig, war mit Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely schon seit den 50er Jahren befreundet und wurde ihr Mentor. Er schrieb über sie: „Mehr oder weniger bewusst verstand sie ganz allmählich, dass Kunst ein Lebensprinzip ist, für manche Menschen vielleicht das Lebensprinzip überhaupt, das aber mitsamt seinen Kräften leider domestiziert und kultiviert worden war. Gleichzeitig erkannte sie, dass man sich dieses Prinzips nach Gutdünken bedienen konnte, um dunkle Mächte zu rufen und sie für sich in den Dienst zu nehmen. Hierfür gab es weder Regeln noch Einschränkungen, sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Dieser Weg, zwischen der Welt in ihrem Innern und der Außenwelt eine Beziehung herzustellen und damit eine Identität zu finden, bot sich ihr in einer Krisensituation. Ihre ersten Bilder zeigen sehr genau, wie sie Gewalt und Erregung auf diese Weise freisetzen konnte.“

Dank der Kooperation des Züricher Kunsthauses und der Schirn Kunsthalle konnte eine hervorragende Ausstellung zusammengestellt werden, die nach Zürich jetzt auch in Frankfurt zu sehen ist und den Besuchern neben den natürlich auch vorhandenen Nanas, Highlights aus ihrem Œuvre vom Beginn bis zum Ende ihres künstlerischen Schaffens präsentiert: Angefangen bei den legendären Schießbildern, den Tirs, die in provokativen Performances entstanden und die angestaute Wut über den Missbrauch der Jugendlich durch ihren Vater zum Ausdruck bringt, über Malerei, Zeichnung und Assemblagen bis hin zu ihren großformatigen Installationen. Dabei liegt der Fokus der präsentierten Werke auf ihre Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und kunsthistorischen Konventionen.

Dabei bedeutete Kunst für sie mehr als nur ein Medium des Ausdrucks, sondern war eine Notwendigkeit. Soziale und politische Themen wie die weitverbreitete Stigmatisierung durch AIDS, das Recht auf Abtreibung, Waffengesetze oder den Klimawandel werden dabei von ihr voller Freude und Brutalität, Humor und Eigensinn aufgegriffen und in der von Männern dominierten Kunstszene mutig umgesetzt. Ermöglicht wurde die Ausstellung durch bedeutende Leihgaben aus deutschen und internationalen Museen und öffentlichen wie privaten Sammlungen. Dabei war das Sprengel Museum Hannover, das Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain in Nizza, das Museum für Kunst und Geschichte in Fribourg, das Moderna Museet in Stockholm, das mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig in Wien, das Baseler Museum Tinguely, in dem viele von ihr als Schenkung übergebene Werke ihres Ehemanns Jean Tinguely vereint sind und natürlich der Mitorganisator, das Kunsthaus Zürich, wichtige Partner.

Schirn-Direktor Sebastian Baden freut sich über die Ausstellung: „Mit der Ausstellung ‚Niki de Saint Phalle’ präsentieren wir in der Schirn die Schöpferin der weltweit populären Nanas als eine visionäre und politisch denkende Künstlerin. Sie sah ihr Schaffen stets unmittelbar im Leben verortet und in Verbindung mit gesellschaftlichen Diskursen. Durch kollektive Werkproduktionen, an denen sie auch Besucherinnen und Besucher teilhaben ließ, und monumentale Skulpturen im öffentlichen Raum schuf sie neue Wege der Partizipation. Sie eröffnete mit ihrer Kunst einen öffentlichen Dialog über gesellschaftlich relevante Fragen, die uns bis heute beschäftigen. Ganz in diesem Sinne freue ich mich, das radikale wie humorvolle Werk der Künstlerin in allen Facetten ihres fünf Jahrzehnte umfassenden Schaffens in Frankfurt einem breiten Publikum präsentieren zu können.“

Kuratiert wird die Ausstellung durch Katharina Dohm: „Niki de Saint Phalle fasziniert bis heute durch ihre enorme gestalterische Kraft und das große Spektrum ihres künstlerischen Ausdrucks. Kompromisslos setzte sie sich über die starren gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit und die vorherrschenden Regeln des Kunstbetriebs hinweg. Ihr künstlerischer Schaffensdrang speiste sich aus der Wut gegen eine von patriarchalen Strukturen durchdrungene Gesellschaft, der sie mit ihrem offenherzigen, provokanten Schaffen den Kampf ansagte. Dabei durchziehen fröhliche wie makabre Darstellungen und ein feines Gespür für die Ambiguität von Gut und Böse ihr gesamtes Œuvre."

Niki de Saint Phalle Skull Meditation Room

(c) Niki de Saint Phalle/Foto: Michael Ritter

Rundgang durch die Ausstellung

Niki de Saint Phalle La Toilette

(c) Niki de Saint Phalle/Foto: Michael Ritter

Die Ausstellung beleuchtet in sechs thematischen Bereichen die Werkphasen des künstlerischen Schaffens von Niki de Saint Phalle

Erste Bekanntheit erlangte de Saint Phalle Anfang der 1960er-Jahre mit ihren Schießbildern. In provokanten Performances schoss sie vor Publikum mit einem Gewehr auf präparierte weiße Gipsreliefs mit verspachtelten Farbelementen, die sie damit regelrecht zum Bluten brachte. Diese Aktionen führten 1961 zu ihrer Aufnahme als einzige Künstlerin in die Gruppe der „Nouveaux Réalistes“ um Pierre Restany, die die abstrakte Kunst der Nachkriegszeit ablehnten und eine neue Verbindung zwischen Kunst und Realität forderten. Essenziell für die Werkserie der Schießbilder ist die Auflösung der strikten Trennung zwischen Künstlerin, Werk und Publikum.

Besucherinnen und Besucher, aber auch Künstlerkollegen wie Pierre Restany, Jasper Johns, Robert Rauschenberg oder Edward Kienholz nahmen aktiv an den Happenings teil, schossen auf die Bilder und wurden so zu Mitwirkenden an einem zerstörerischen und zugleich schöpferischen, gesellschaftskritischen Akt. Im Jahr 1963 beendete de Saint Phalle die Werkgruppe der Schi eßbilder. Die Schirn präsentiert zwei Werke, die de Saint Phalle 1961 in ihrer ersten Einzelausstellung „Feu à volonté“ („Feuer frei“) in der Galerie J in Paris zeigte. Großformatige Arbeiten wie King-Kong (1962) oder Heads of State (Study for King-Kong) 1963) mit satirischen Darstellungen von männlichen Protagonisten der Weltpolitik unterstreichen die politische Dimension der Schießbilder.

Schon vor den Schießbildern hatte sich de Saint Phalle ganz der Kunst zugewandt. Nach einem Nervenzusammenbruch 1953 widmete sie sich der Malerei und trennte sich, um als Künstlerin arbeiten zu können, 1960 von ihrem Ehemann Harry Mathews und den beiden Kindern. In Paris lernte sie ihren künstlerischen Wegbegleiter und langjährigen Partner Jean Tinguely kennen, mit dem sie in der Folge zahlreiche Projekte realisierte und ab 1963 in Frankreich und den USA lebte. Ab 1958 arbeitete die Autodidaktin an Assemblagen und Landschaften, in die sie gefundene Scherben, Alltagsgegenstände oder auch Plastikobjekte wie Spielzeugpistolen integrierte. Inspiriert von zeitgenössischer Kunst experimentierte sie mit unterschiedlichen Techniken, in Nightscape (1959) etwa mit dem von Jackson Pollock geprägten Dripping und der von Antoni Gaudí verwendeten alten maurischen Mosaik-Technik, und griff Einflüsse von Jean Dubuffet, surrealistischen Collagen, Neo-Dada und naiver Malerei auf.

Ab 1963 entwickelte de Saint Phalle zunehmend figürliche Assemblagen, die sich mit weiblicher Identität auseinandersetzen. Zwar beteiligte sich die Künstlerin nicht aktiv an der Frauenbewegung, nahm aber in ihren Werken zentrale Aspekte der feministischen Kunstbewegung vorweg. Mit Arbeiten wie Femme nue (Figure), 1963/64), L’accouchement rose (1964) oder Autel des femmes (1964) erschuf sie imposante wie auch monströse Frauengestalten. Betont weiblich und bedeckt von Plastikspielzeug und Fundobjekten beleuchten die Plastiken die Potenz der Frau und hinterfragen zugleich kritisch traditionelle Rollen als Ehefrau, Mutter und sexualisierter Körper in der westlichen Nachkriegsgesellschaft.

1965 stellte de Saint Phalle in Paris erstmals die neue Werkserie der Nanas vor, die sie als ein „Jubelfest der Frauen“ bezeichnete. Anders als die frühen Assemblagen verkörpern die in leuchtenden Farben bemalten, üppigen und oft schwangeren Frauenfiguren mit prallen Brüsten, großen Hinterteilen und kleinen Köpfen Lebensfreude und Stärke und rufen ein von Unterdrückung befreites Matriarchat aus. In der Folge entstanden Nanas in vielen Ausführungen, in unterschiedlichen Materialien, Größen und Farben, als Skulpturen im öffentlichen Raum oder als begehbare Nana Häuser. Für das Moderna Museet in Stockholm realisierte die Künstlerin 1966 zusammen mit Per Olof Ultvedt und Jean Tinguely die Großskulptur Hon – En Kathedral, eine durch die Vagina begehbare Nana, in deren Inneren sich ein Vergnügungspark für Erwachsene mit Milchbar, Kino und Ausstellungen befand. Die Schirn zeigt ein Modell sowie eine Skizze und dokumentarisches Material der 25 Meter langen, 9 Meter breiten und 6 Meter hohen Figur, von der nur der Kopf erhalten geblieben ist.

Als Gegenserie zu den befreiten Nanas konzipierte die Künstlerin in den 1970er-Jahren The Devouring Mothers, die den Konventionen verhaftete alternde Frauen darstellen. Die Schirn zeigt Tea Party, ou Le Thé chez Angelina (1971) und La Toilette (1978). Hier wie auch in der gleichnamigen illustrierten Publikation The Devouring Mothers, Storybook (1972) und dem Film Daddy (1973) setzte sich de Saint Phalle mit der schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und dem Missbrauch durch den Vater in ihrer Kindheit auseinander. Im Begleitprogramm der Ausstellung präsentiert die Schirn neben Daddy auch den Film Un rêve plus long que la nuit (1976) der Künstlerin.

Die Faszination für architekturale Skulpturen begleitete de Saint Phalle seit Beginn ihres künstlerischen Schaffens. Bereits in den 1950er-Jahren hinterließen Besuche des Park Güell von Antoni Gaudí in Barcelona und des Palais idéal von Ferdinand Cheval in Hauterive in Frankreich einen nachhaltigen Eindruck. Die Absicht, Kunst in das Leben der Menschen zu integrieren, zieht sich in unterschiedlicher Form durch ihr Werk, als Motiv in den frühen Gemälden bis zu Gebäuden, Spielhäusern für Kinder und Skulpturen-Parks. Ab 1975 widmete sie sich verstärkt dem Tarotgarten, der zu ihrem künstlerischen Vermächtnis wurde. Über 20 Jahre arbeitete sie an diesem Großprojekt, das sie selbst finanzierte und an dem Jean Tinguely, Seppi Imhof und Rico Weber mitwirkten. Der Garten wurde am 15. Mai 1998 eröffnet und umfasst 22 teilweise begeh- und bewohnbare Monumentalskulpturen, die mit farbigen Mosaiksteinen, Keramik- und Spiegelscherben verkleidet sind. Die Schirn präsentiert Entwürfe, der Sphinx und von Magicien – House of Meditation (1978) sowie Modelle für Projekte, die nicht realisiert werden konnten, wie Temple of all Religions (1974–1988).

Die Auseinandersetzung mit politischen Themen findet sich in allen Schaffensphasen der Künstlerin. Ihre Schießbilder entstanden während des Algerienkrieges, der Kubakrise und der nuklearen Bedrohung im Kalten Krieg. In den 1980er-Jahren beteiligte sie sich als eine der ersten Künstlerinnen mit Aufklärungskampagnen am Kampf gegen AIDS. In diesem Kontext schuf sie auch die in der Schirn gezeigten Skulpturen Trilogie des obélisques (1987) und Skull, Meditation Room (1990). 2001 gestaltet de Saint Phalle in den USA eine Serie von Grafiken, die sich in eine lange Reihe piktografischer Briefe seit den 1960er-Jahren einfügt. Hierin verhandelte die Künstlerin öffentliche Diskurse in den USA, die bis heute relevant sind, wie etwa die mangelnde Regulierung der Waffenindustrie oder die Auseinandersetzung um Abtreibung und das Recht der Frau auf körperliche Selbstbestimmung. In Global Warming kritisiert de Saint Phalle die Politik des damaligen republikanischen Präsidenten George W. Bush, der für sie die Vernachlässigung der Umweltprobleme verkörperte.

Zur bis zum 21. Mai 2023 zu sehenden Ausstellung erschien ein beeindruckender Katalog, ein kostenfreies Digitorial und ein kostenfrei installierbarer Audioguide.

(c) Magazin Frankfurt, 2024